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ANSPRACHE VON BENEDIKT XVI.
AN DIE TEILNEHMER DER VOLLVERSAMMLUNG
DER PÄPSTLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN

Clementina-Saal
Montag, 6. November 2006

 

Exzellenzen,
sehr geehrte Damen und Herren!

Mit Freude begrüße ich die Mitglieder der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften anläßlich der Vollversammlung, und ich danke Herrn Professor Nicola Cabibbo für seine freundlichen Grußworte, die er mir in Ihrem Namen ausgesprochen hat. Das Thema Ihres Treffens – »Vorhersagbarkeit in den Wissenschaften: Genauigkeit und Grenzen« – befaßt sich mit einem besonderen Merkmal der modernen Wissenschaft. Die Vorhersagbarkeit ist in der Tat einer der Hauptgründe für das Prestige der Wissenschaft in der heutigen Gesellschaft. Die Etablierung der wissenschaftlichen Methode hat den Wissenschaften die Fähigkeit verliehen, Phänomene vorauszusagen, ihre Entwicklung zu studieren und so die Umwelt zu kontrollieren, in welcher der Mensch lebt.

Dieses zunehmende »Fortschreiten« der Wissenschaft und vor allem ihre Fähigkeit, die Natur durch Technologie zu beherrschen, ist gelegentlich mit einem entsprechenden »Rückzug« der Philosophie, der Religion und sogar des christlichen Glaubens in Verbindung gebracht worden. In der Tat haben einige im Fortschritt der modernen Wissenschaft und Technologie eine der Hauptursachen der Säkularisation und des Materialismus gesehen: Warum sollte man sich auf Gottes Herrschaft über diese Phänomene berufen, wenn sich die Wissenschaft als fähig erwiesen hat, dasselbe zu tun? Sicherlich erkennt die Kirche an, daß der Mensch »mit den Mitteln der Wissenschaft und der Technik seine Herrschaft über beinahe die gesamte Natur ausgebreitet hat« und sich demnach »viele Güter, die er einst vor allem von höheren Mächten erwartete, durch seine eigene Tat beschafft« (Gaudium et spes, 33). Gleichwohl postuliert das Christentum keinen unvermeidlichen Konflikt zwischen dem übernatürlichen Glauben und dem wissenschaftlichen Fortschritt. Der eigentliche Ausgangspunkt der biblischen Offenbarung ist die Aussage, daß Gott die Menschen geschaffen, sie mit Vernunft ausgestattet und über alle Geschöpfe der Erde gestellt hat. Auf diese Weise ist der Mensch zum Verwalter der Schöpfung und zum »Helfer« Gottes geworden. Wenn wir zum Beispiel daran denken, wie die moderne Wissenschaft durch die Vorhersage von Naturphänomenen zum Schutz der Umwelt, zum Fortschritt der Entwicklungsländer, zum Kampf gegen die Epidemien und zur Erhöhung der Lebenserwartung beigetragen hat, scheint es offensichtlich, daß es keinen Konflikt zwischen der göttlichen Vorsehung und der Initiative des Menschen gibt. Wir könnten in der Tat sagen, daß die Tätigkeit der Vorhersage, der Kontrolle und der Beherrschung der Naturphänomene, die durch die heutige Wissenschaft realisierbarer ist als in der Vergangenheit, zum Plan des Schöpfers gehört.

Obwohl die Wissenschaft viel gibt, gibt sie nur das, wozu sie bestimmt ist. Der Mensch darf in Wissenschaft und Technologie kein derartig radikales und unbedingtes Vertrauen setzen, daß er meint, der wissenschaftliche und technologische Fortschritt könne alles erklären und seine existentiellen und geistlichen Bedürfnisse vollkommen erfüllen. Die Wissenschaft kann die Philosophie und die Offenbarung nicht ersetzen und auch keine erschöpfende Antwort auf die grundlegenden Fragen des Menschen geben: Fragen über die Bedeutung des Lebens und des Sterbens, über die höchsten Werte und über die Natur des Fortschritts selbst. Aus diesem Grund hat das II. Vatikanische Konzil den dem wissenschaftlichen Fortschritt entspringenden Gewinn anerkannt, hob dann aber hervor, daß »die Forschungsmethode dieser Disziplinen unberechtigt als oberste Norm der Findung der Wahrheit schlechthin angesehen wird«. Und weiter heißt es: »Ja es besteht die Gefahr, daß der Mensch in allzu großem Vertrauen auf die heutigen Errungenschaften sich selbst zu genügen glaubt und darüber hinaus nicht mehr sucht« (ebd., 57).

Die wissenschaftliche Vorhersagbarkeit wirft auch die Frage nach der ethischen Verantwortlichkeit des Wissenschaftlers auf. Seine Schlußfolgerungen müssen von der Achtung der Wahrheit und von der ehrlichen Anerkennung sowohl der Genauigkeit als auch der unvermeidlichen Grenzen der wissenschaftlichen Methode geleitet sein. Dies bedeutet gewiß, unnötig alarmierende Vorhersagen zu vermeiden, wenn diese nicht durch ausreichende Daten gestützt sind oder über die tatsächlichen Fähigkeiten der Wissenschaft zur Vorhersage hinausgehen. Dies heißt aber auch, das Gegenteil zu vermeiden, nämlich aus Angst zu schweigen angesichts der wirklichen Probleme. Der Einfluß der Wissenschaftler auf die Bildung der öffentlichen Meinung auf der Grundlage ihrer Erkenntnisse ist zu wichtig, um von einer unbotmäßigen Eile oder von der Suche nach einer oberflächlichen Publizität untergraben zu werden. Wie mein Vorgänger Papst Johannes Paul II. einmal bemerkte: »Deshalb sind die Wissenschaftler, gerade weil sie ›mehr wissen‹, berufen, ›mehr zu dienen‹. Weil die Forschungsfreiheit, die sie genießen, ihnen den Zutritt zum Fachwissen gibt, haben sie die Verantwortung, dieses weise zum Wohl der ganzen Menschheitsfamilie zu nutzen« (Ansprache an die Päpstliche Akademie der Wissenschaften, 11. November 2002; in O.R. dt., Nr. 48, 29.11.2002, S. 7).

Liebe Mitglieder der Akademie, unsere Welt schaut weiterhin auf Sie und Ihre Kollegen, um die möglichen Konsequenzen vieler wichtiger Naturphänomene zu verstehen. Ich denke zum Beispiel an die beständige Bedrohung der Umwelt, die ganze Völker in Mitleidenschaft zieht, und an die dringende Notwendigkeit, alternative Energiequellen zu entdecken, die sicher und allen zugänglich sind. Die Wissenschaftler werden bei ihren Bemühungen, derartige Problematiken anzugehen, die Unterstützung der Kirche finden, denn die Kirche hat von ihrem göttlichen Stifter die Aufgabe erhalten, das Gewissen der Menschen zum Guten, zur Solidarität und zum Frieden zu führen. Gerade aus diesem Grund hält sie es für ihre Pflicht, darauf zu bestehen, daß die Fähigkeit der Wissenschaft zur Vorhersage und Kontrolle niemals gegen das menschliche Leben und seine Würde benutzt wird, sondern immer in seinen Dienst gestellt wird, in den Dienst der gegenwärtigen und zukünftigen Generationen.

Das Thema Ihrer Versammlung kann uns heute eine abschließende Überlegung nahelegen. Wie einige der in den letzten Tagen vorgelegten Referate hervorgehoben haben, hat bei der Sammlung, Bearbeitung und Verwendung von Daten für Vorhersagen die wissenschaftliche Methode ihr selbst innewohnende Grenzen, die die wissenschaftliche Vorhersagbarkeit notwendigerweise auf spezifische Kontexte und Annäherungsweisen beschränken. Daher kann die Wissenschaft nicht den Anspruch erheben, eine vollständige und deterministische Darstellung unserer Zukunft und der Entwicklung eines jeden von ihr untersuchten Phänomens zu liefern. Die Philosophie und die Theologie könnten einen wichtigen Beitrag zu dieser im wesentlichen epistemologischen Frage leisten, zum Beispiel indem sie den empirischen Wissenschaften dabei helfen, einen Unterschied zwischen der mathematischen Unfähigkeit, bestimmte Ereignisse vorherzusagen, und der Gültigkeit des Kausalprinzips anzuerkennen, oder zwischen dem wissenschaftlichen Indeterminismus oder der Kontingenz (Zufälligkeit) und der Kausalität auf philosophischer Ebene, oder, radikaler, zwischen der Evolution als dem Ursprung einer raumzeitlichen Sukzession und der Schöpfung als letztem Ursprung des Seins durch Teilhabe aus dem wesenhaften Sein.

Gleichzeitig gibt es eine höhere Ebene, die notwendig alle wissenschaftlichen Vorhersagen überschreitet, das heißt die menschliche Welt der Freiheit und der Geschichte. Während der physikalische Kosmos eine eigene raumzeitliche Entwicklung haben kann, hat strenggenommen nur die Menschheit eine Geschichte, die Geschichte ihrer Freiheit. Die Freiheit ist wie die Vernunft ein wertvoller Teil des Bildes Gottes in uns und kann nie auf eine deterministische Analyse reduziert werden. Ihre Transzendenz hinsichtlich der materiellen Welt muß anerkannt und respektiert werden, da sie ein Zeichen unserer menschlichen Würde ist. Die Negation dieser Transzendenz im Namen einer vermeintlichen absoluten Fähigkeit der wissenschaftlichen Methode, die menschliche Welt vorherzusagen und zu konditionieren, brächte den Verlust des Menschlichen im Menschen mit sich, und die Nichtanerkennung seiner Einzigartigkeit und Transzendenz könnte seiner Ausbeutung auf gefährliche Weise die Tore öffnen.

Liebe Freunde, während ich diese Betrachtungen abschließe, versichere ich Sie nochmals meines großen Interesses für die Aktivitäten dieser Päpstlichen Akademie sowie meines Gebets für Sie und Ihre Familien. Für Sie alle erbitte ich den Segen, die Weisheit, Freude und den Frieden des Allmächtigen Gottes.

 

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