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PAPST FRANZISKUS

GENERALAUDIENZ

Damasus-Hof
Mittwoch, 23. September 2020

[Multimedia]


 

Liebe Brüder und Schwestern,

das Wetter scheint nicht sehr gut zu sein, aber ich sage trotzdem zu euch: guten Tag! Um aus einer Krise wie der derzeitigen, die eine gesundheitliche und zugleich eine soziale, politische und wirtschaftliche Krise ist, besser herauszukommen, ist jeder von uns aufgerufen, seinen Teil der Verantwortung zu übernehmen, also die Verantwortung miteinander zu teilen. Wir müssen nicht nur als Einzelpersonen antworten, sondern auch von unserer Zugehörigkeitsgruppe her, von der Rolle her, die wir in der Gesellschaft haben, von unseren Prinzipien her und, wenn wir gläubig sind, vom Glauben an Gott her.

Oft können jedoch viele Menschen nicht am Wiederaufbau des Gemeinwohls mitwirken, weil sie ausgegrenzt, ausgeschlossen sind oder übersehen werden; bestimmte Gesellschaftsgruppen können nicht dazu beitragen, weil sie wirtschaftlich oder politisch unterdrückt sind. In einigen Gesellschaften sind viele Menschen nicht frei, ihren Glauben und ihre Werte, ihre Ideen zum Ausdruck zu bringen: Wenn sie sie zum Ausdruck bringen, kommen sie ins Gefängnis. Anderswo, besonders in der westlichen Welt, unterdrücken viele ihre ethischen oder religiösen Überzeugungen selbst. So kann man jedoch nicht aus der Krise herauskommen, oder man kann jedenfalls nicht besser aus ihr hervorgehen. Wir werden schlechter aus ihr hervorgehen.

Damit wir alle an der Sorge um unsere Völker und an ihrer Erneuerung teilhaben können, muss jeder angemessene Ressourcen haben, um dies zu tun (vgl. Kompendium der Soziallehre der Kirche [KSLK], 186). Nach der großen Wirtschaftskrise des Jahres 1929 erklärte Papst Pius XI., wie wichtig für einen wahren Wiederaufbau das Subsidiaritätsprinzip ist (vgl. Enzyklika Quadragesimo anno, 79-80). Dieses Prinzip hat eine zweifache Dynamik: von oben nach unten und von unten nach oben. Vielleicht verstehen wir nicht, was das bedeutet, aber es ist ein gesellschaftliches Prinzip, das uns stärker vereint. Einerseits, und vor allem in Zeiten des Wandels, wenn die Einzelpersonen, die Familien, die kleinen Verbände oder die Ortsgemeinschaften nicht in der Lage sind, die wichtigsten Ziele zu erreichen, dann ist es richtig, dass die höheren Ebenen des Sozialkörpers, wie der Staat, eingreifen, um die notwendigen Ressourcen zu liefern, um voranzugehen. Zum Beispiel befanden sich – und befinden sich noch immer – viele Menschen, Familien und wirtschaftliche Unternehmen aufgrund des »Lockdowns« wegen des Coronavirus
in großen Schwierigkeiten; daher versuchen die öffentlichen Einrichtungen, mit angemessenen Maßnahmen im sozialen und wirtschaftlichen Bereich sowie im Gesundheitswesen zu helfen: Das ist ihre Aufgabe, das müssen sie tun. Andererseits müssen die Spitzen der Gesellschaft jedoch die mittleren und unteren Ebenen respektieren und fördern. Tatsächlich ist der Beitrag der Einzelpersonen, der Familien, der Verbände, der Unternehmen, aller kleineren Gemeinwesen und auch der Kirchen entscheidend. Mit ihren kulturellen, religiösen, wirtschaftlichen Ressourcen sowie ihrer Beteiligung am bürgerlichen Leben beleben und stärken sie den Sozialkörper (vgl. KSLK, 185).

Es gibt also eine Zusammenarbeit von oben nach unten, vom Zentralstaat zum Volk, und von unten nach oben: von den Gruppierungen des Volkes nach oben. Und genau das ist die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips. Jeder muss die Möglichkeit haben, in den Heilungsprozessen der Gesellschaft, zu der er gehört, die eigene Verantwortung zu übernehmen. Wenn irgendein Projekt umgesetzt wird, das direkt oder indirekt bestimmte gesellschaftliche Gruppen betrifft, dann können diese nicht von der Beteiligung ausgeschlossen werden. Zum Beispiel: »Was tust du?« – »Ich bin für die Armen tätig« – »Schön, und was tust du?« – »Ich lehre die Armen, ich sage den Armen, was sie tun sollen.« Nein, das geht nicht; der erste Schritt besteht darin, dass du dir von den Armen sagen lässt, wie sie leben, was sie brauchen: Man muss alle reden lassen! Und so funktioniert das Subsidiaritätsprinzip. Wir können diese Menschen nicht von der Beteiligung ausschließen; ihre Weisheit, die Weisheit der einfachsten Gruppen darf nicht ausgeschlossen werden (vgl. Apostolisches Schreiben Querida Amazonia [QA], 32; Enzyklika Laudato si’, 63). Leider findet diese Ungerechtigkeit oft dort statt, wo große wirtschaftliche oder geopolitische Interessen sich konzentrieren, wie zum Beispiel bei der Förderung von Mineralien in einigen Gebieten des Planeten (vgl. QA, 9.14). Die Stimmen der indigenen Völker, ihre Kulturen und Weltanschauungen werden nicht berücksichtigt.

Heute ist diese mangelnde Achtung des Subsidiaritätsprinzips wie ein Virus verbreitet. Denken wir an die großen Maßnahmen zur Finanzhilfe, die von den Staaten durchgeführt werden. Man hört mehr auf die großen Finanzgesellschaften als auf die Menschen oder jene, die die reale Wirtschaft bewegen. Man hört mehr auf multinationale Konzerne als auf soziale Bewegungen. Um es in der Sprache des einfachen Mannes zu sagen: Man hört mehr auf die Mächtigen als auf die Schwachen, und das ist nicht der Weg, es ist nicht der menschliche Weg, es ist nicht der Weg, den Jesus uns gelehrt hat, es ist nicht die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips. So lassen wir die Menschen nicht zu »Protagonisten ihrer Erlösung« werden.[1]

Im kollektiven Unterbewusstsein einiger Politiker und einiger Gewerkschafter ist folgendes Motto vorhanden: alles für das Volk, nichts mit dem Volk. Von oben nach unten, aber ohne auf die Weisheit des Volkes zu hören, ohne diese Weisheit bei der Problemlösung – in diesem Fall das Herauskommen aus der Krise – anzuwenden. Oder denken wir auch an das Heilmittel gegen das Virus: Man hört mehr auf die großen pharmazeutischen Konzerne als auf die Mitarbeiter im Gesundheitswesen, die in den Krankenhäusern oder in Flüchtlingslagern an vorderster Front stehen. Das ist kein guter Weg. Alle müssen gehört werden: die, die oben stehen, und die, die unten stehen, alle.

Um besser aus einer Krise herauszukommen, muss das Subsidiaritätsprinzip angewandt werden, indem man die Autonomie und die Fähigkeit zur Eigeninitiative aller achtet, besonders der Geringsten. Alle Teile eines Leibes sind notwendig und, wie der heilige Paulus sagt, gerade die schwächer und weniger wichtig scheinenden Glieder sind in Wirklichkeit unentbehrlich (vgl. 1 Kor 12,22). Im Licht dieses Bildes können wir sagen, dass das Subsidiaritätsprinzip jedem gestattet, die eigene Rolle für die Sorge und das Schicksal der Gesellschaft zu übernehmen. Es anzuwenden, das Subsidiaritätsprinzip anzuwenden, gibt Hoffnung, gibt Hoffnung auf eine gesündere und gerechtere Zukunft; und diese Zukunft bauen wir gemeinsam auf, indem wir nach den größeren Dingen streben und unsere Horizonte erweitern.[2] Entweder gemeinsam oder es funktioniert nicht. Entweder arbeiten wir gemeinsam daran, aus der Krise herauszukommen, auf allen Ebenen der Gesellschaft, oder wir werden nie aus ihr herauskommen.

Aus der Krise herauskommen bedeutet nicht, den gegenwärtigen Situationen einen Lackanstrich zu geben, damit sie etwas gerechter erscheinen. Aus der Krise herauskommen bedeutet, sich zu verändern, und die wahre Veränderung nehmen alle vor – alle Menschen, die das Volk bilden. Alle Berufsgruppen, alle. Und alle gemeinsam, alle in Gemeinschaft. Wenn es nicht alle tun, dann wird das Ergebnis negativ sein. In einer früheren Katechese haben wir gesehen, dass die Solidarität der Weg ist, um aus der Krise herauszukommen: Sie vereint uns und lässt uns solide Vorschläge für eine gesündere Welt finden. Aber dieser Weg der Solidarität bedarf der Subsidiarität.

Jemand könnte zu mir sagen: »Aber Vater, heute benutzen Sie schwierige Worte!« Aber darum versuche ich zu erklären, was es bedeutet. Solidarisch, weil wir auf dem Weg der Subsidiarität unterwegs sind. Denn es gibt keine wahre Solidarität ohne soziale Beteiligung, ohne den Beitrag der kleineren Gemeinwesen: der Familien, der Verbände, der Genossenschaften, der Kleinunternehmen, der Ausdrucksformen der Zivilgesellschaft. Alle müssen dazu beitragen, alle. Diese Beteiligung hilft, gewissen negativen Aspekten der Globalisierung und des Handelns der Staaten vorzubeugen und sie zu korrigieren, ebenso wie bei der Behandlung der von der Pandemie betroffenen Menschen. Diese Beiträge »von unten« müssen angespornt werden. Wie schön ist es doch, die Arbeit der ehrenamtlichen Helfer in der Krise zu sehen. Ehrenamtliche, die aus allen sozialen Schichten kommen; Ehrenamtliche, die aus den wohlhabendsten Familien kommen, und solche, die aus den ärmsten Familien kommen. Aber alle, alle gemeinsam, um aus ihr herauszukommen. Das ist Solidarität, und das ist das Prinzip der Subsidiarität. Während des »Lockdowns« ist spontan die Geste entstanden, den Ärzten, Krankenpflegern und Krankenschwestern zu applaudieren, als Zeichen der Ermutigung und der Hoffnung. Viele haben ihr Leben riskiert, und viele haben ihr Leben hingegeben. Weiten wir diesen Beifall auf alle Glieder des Sozialkörpers aus, auf alle, auf jeden, für seinen wertvollen Beitrag, so klein er auch sein mag. »Aber was kann der dort tun? – Hör ihn an, gib ihm Raum zum Arbeiten, besprich es mit ihm.« Applaudieren wir den »Weggeworfenen«, denen, die diese Kultur, diese Wegwerfkultur als »weggeworfen« abstempelt, applaudieren wir also den alten Menschen, den Kindern, den Menschen mit Behinderung, applaudieren wir den Arbeitern, allen, die sich in den Dienst der anderen stellen.

Alle arbeiten zusammen, um aus der Krise herauszukommen. Aber machen wir nicht nur beim Applaus halt! Die Hoffnung ist kühn, ermutigen wir einander also, große Dinge zu träumen. Brüder und Schwestern, lernen wir, große Dinge zu träumen! Wir dürfen keine Angst haben, große Dinge zu träumen und nach den Idealen der Gerechtigkeit und der sozialen Liebe zu streben, die aus der Hoffnung entstehen. Versuchen wir nicht, die Vergangenheit zu rekonstruieren, das Vergangene ist vergangen, neue Dinge warten auf uns. Der Herr hat uns verheißen: »Ich mache alles neu.« Ermutigen wir einander, Großes zu träumen, indem wir nach diesen Idealen streben. Versuchen wir nicht, die Vergangenheit zu rekonstruieren, vor allem jene, die ungerecht und bereits krank war, was ich bereits als Ungerechtigkeit bezeichnet habe. Bauen wir eine Zukunft auf, in der die lokale und die globale Dimension sich gegenseitig bereichern – jeder kann das Seine dazu beitragen; jeder muss von dem geben, was das Seine ist, seine Kultur, seine Philosophie, seine Art zu denken –, wo die Schönheit und der Reichtum der kleinen Gruppen, auch der ausgegrenzten Gruppen gedeihen kann, denn auch dort ist Schönheit, und wo der, der mehr hat, sich verpflichtet zu dienen und dem, der weniger hat, mehr zu geben.

* * *

Herzlich heiße ich die Brüder und Schwestern deutscher Sprache willkommen. Der Herr lädt uns ein, mit den Gaben, die er uns geschenkt hat, zum Wohl der Gesellschaft beizutragen. Im Vertrauen auf seine Hilfe wollen wir gemeinsam eine Zukunft voller Hoffnung, Gerechtigkeit und Frieden aufbauen. Der Heilige Geist begleite uns alle mit seiner Kraft.



[1] Botschaft zum 106. Welttag des Migranten und Flüchtlings (13. Mai 2020).
[2] Vgl. Grußworte an die Jugendlichen des Kulturzentrums »Padre Félix Varela«, Havanna, Kuba, 20. September 2015.

 



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