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PAPST FRANZISKUS

FRÜHMESSE IM VATIKANISCHEN GÄSTEHAUS "DOMUS SANCTAE MARTHAE"

 

Für eine Kultur der Begegnung

Dienstag, 13. September 2016

 

aus: L'Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 38, 23. September 2016

 

Eine Einladung, sich für »die Kultur der Begegnung« einzusetzen, und zwar auf ganz einfache Weise, »wie Jesus es getan hat«: nicht nur sehen, sondern hinschauen; nicht nur hören, sondern zuhören; nicht nur die Menschen treffen, sondern sich Zeit nehmen, ihnen zu begegnen; nicht nur sagen: »Bedauernswerte, arme Leute!«, sondern von Mitleid erfüllt »sich nähern, berühren und sagen: ›Nicht weinen!‹ und wenigstens einen Tropfen Leben schenken«. Das sei die in den Tageslesungen enthaltene Botschaft, so Papst Franziskus in der Predigt der Frühmesse am 13. September, die er wie gewohnt im Gästehaus Santa Marta feierte.

Der Papst wandte seine Aufmerksamkeit insbesondere der vom Evangelisten Lukas (7,11-17) berichteten Begebenheit der Witwe von Naïn zu: Das »Wort Gottes« spreche an diesem Tag von »einer Begegnung. Es ist eine Begegnung zwischen den Menschen, die Menschen begegnen einander auf der Straße.« Und schon das sei »etwas ungewöhnliches«, denn »wenn wir auf der Straße gehen, dann denkt jeder an sich: man sieht, aber es ist kein Hinschauen; man hört, aber es ist kein Zuhören«. Jeder gehe in die eigene Richtung. Und folglich »treffen die Menschen aufeinander, aber sie begegnen einander nicht«. Denn »Begegnung ist etwas anderes«. Begegnung sei »genau das, was uns heute das Evangelium verkündet: eine Begegnung zwischen einer Frau und einem Mann, zwischen einem einzigen Sohn, der lebt, und einem einzigen Sohn, der tot ist; zwischen einer glücklichen Menge, die Jesus begegnet war und ihm nachfolgte, und einer Menschengruppe, die weinend jene Frau begleitete«, die als Witwe ihren einzigen Sohn zu Grabe trug.

Franziskus erläuterte, dass diese Begegnung »uns nachdenken lässt, über unsere Art und Weise einander zu begegnen«. Im Evangelium sei zu lesen: »Als der Herr die Frau sah, hatte er Mitleid mit ihr.« Und das sei nicht »das erste Mal«, wo im Evangelium vom Mitleid Jesu die Rede sei. »Auch als Jesus am Tag der Brotvermehrung die Menge sieht, wurde er von tiefem Mitleid erfüllt. Dasselbe geschah am Grab seines Freundes Lazarus, wo er weinte.« Das sei ein Mitleid, das ganz anders sei als das unsere, »wenn wir auf der Straße unterwegs sind, etwas Trauriges sehen und sagen: ›Bedauernswert!‹ « Im übrigen »hat Jesus nicht gesagt: ›Die arme Frau!‹«, sondern »er hat mehr getan: Er ließ sich vom Mitleid bewegen. Er ging zu ihr hin und ›sagte zu ihr: Weine nicht!‹« Auf diese Weise »teilt Jesus mit seinem Mitleid das Problem der Frau. ›Dann ging er zu der Bahre hin und fasste sie an.‹ Das Evangelium sagt, dass er die Bahre berührt. Aber sicherlich hat er auch die Witwe berührt, als er zu ihr sagte: ›Weine nicht!‹ Eine liebevolle Geste. Denn Jesus war bewegt. Und dann wirkt er das Wunder«, die Auferweckung des Jungen. Der Papst sah hierin eine Analogie: »Der einzige verstorbene Sohn ähnelt Jesus, und er wird zum einzigen lebenden Sohn wie Jesus. Es gibt eine Geste Jesu, die die Zärtlichkeit einer Begegnung zeigt, und nicht nur die Zärtlichkeit, ja die Fruchtbarkeit einer Begegnung. ›Da richtete sich der Tote auf und begann zu sprechen, und Jesus gab ihn seiner Mutter zurück.‹ Er hat nicht gesagt: ›Das Wunder ist vollbracht.‹ Nein, er sagte: ›Komm, nimm du ihn, er gehört dir!‹« Daher »ist jede Begegnung fruchtbar. Jede Begegnung gibt Menschen und Dingen ihren Platz zurück.«

Diese Gedanken seien auch für die Menschen von heute aktuell, die zu sehr »an eine Kultur der Gleichgültigkeit gewöhnt sind«. Deshalb bestehe die Notwendigkeit, »sich einzusetzen und um die Gnade zu bitten, eine Kultur der Begegnung zu schaffen, dieser fruchtbaren Begegnung, dieser Begegnung, die jedem Menschen seine Würde als Kind Gottes zurückgibt, die Würde dessen, der lebendig ist«. Wir »haben uns an diese Gleichgültigkeit gewöhnt«, unterstrich Franziskus, sowohl »wenn wir die Katastrophen dieser Welt sehen« als auch angesichts »der kleinen Dinge«. Man beschränke sich darauf, zu sagen: »Arme Leute, bedauernswert, wie viel sie leiden!«, und gehe dann weiter. Begegnung dagegen sei etwas anderes.

Der Papst erläuterte: »Wenn ich nicht aufmerksam hinschaue – nur sehen reicht nicht aus, nein: aufmerksam hinschauen –, wenn ich nicht stehenbleibe, wenn ich nicht hinschaue, wenn ich nicht berühre, wenn ich nicht spreche, dann kommt keine Begegnung zustande und ich kann nicht dazu beitragen, eine Kultur der Begegnung zu schaffen.«

Auf die Beschreibung der Szene im Lukasevangelium zurückkommend, unterstrich der Papst, dass angesichts des von Jesus gewirkten Wunders »alle von Furcht ergriffen wurden und Gott priesen. Ich sehe hierin gerne die alltägliche Begegnung zwischen Jesus und seiner Braut, der Kirche, die auf seine Rückkehr wartet. Und jedes Mal, wenn Jesus auf einen Schmerz trifft, einem Sünder, einem vom Weg abgekommenem Menschen begegnet, dann blickt er ihn an, spricht mit ihm, gibt ihn seiner Braut zurück.« Das sei »die heutige Botschaft: die Begegnung Jesu mit seinem Volk; die Begegnung mit Jesus, der dient, der hilft, der Diener ist, der sich erniedrigt, der an der Seite aller Bedürftigen ist«. Franziskus unterstrich: »Wenn wir ›Bedürftige »wir denken auch an uns selbst als Bedürftige – die wir das Wort Jesu, seine Liebkosungen brauchen – und auch an die uns nahestehenden Menschen« Ein konkretes Beispiel? Der Papst beschriebdas Bild einer um den Tisch versammelten Familie: »Wie oft wird beim Essen ferngesehen oder man schreibt Botschaften am Telefon. Jeder ist jener Begegnung gegenüber gleichgültig. Gerade im Kern der Gesellschaft, der die Familie ist, findet keine Begegnung statt.« Abschließend rief der Papst daher auf, »sich für die Kultur der Begegnung einzusetzen, auf einfache Weise, wie dies Jesus getan hat«.

 



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