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PAPST FRANZISKUS

FRÜHMESSE IM VATIKANISCHEN GÄSTEHAUS "DOMUS SANCTAE MARTHAE"
 

Mit dem Herzen sehen

Dienstag, 19. September 2017
 

(aus: L'Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 39, 29. September 2017)

 

Was es heißt, »mit dem Herzen zu sehen«, wirklich »Mitleid« zu haben und kein einfaches »Mitgefühl« angesichts des Schmerzes der Menschen. Diesem Thema widmete der Papst seine Betrachtung bei der heiligen Messe in Santa Marta am Dienstag, den 19. September. Der Papst ging vom Tagesevangelium nach Lukas (7,11-27) mit dem Abschnitt von der Begegnung Jesu mit der Witwe von Naïn aus und ergriff die Gelegenheit zu einer Katechese über die Beziehung des Christen zum Leid der Armen und Ausgegrenzten.

Franziskus unterstrich eingangs, dass Jesus trotz der Tatsache, dass er sich mit den Jüngern inmitten einer großen Menschenmenge befand, »fähig war, auf einen Menschen zu blicken«, auf eine »Witwe, die dabei war, ihren einzigen Sohn zu Grabe zu tragen«. Man muss sich vergegenwärtigen, erinnerte der Papst, dass »im Alten Testament die Witwen, die Waisen, die Fremden die Ärmsten waren«. In der Schrift finden sich ständig Ermahnungen der Art: »Kümmere dich um die Witwe, um den Waisen und um den Migranten«. Im übrigen »ist die Witwe allein, der Waise bedarf der Fürsorge, um sich in die Gesellschaft zu integrieren«, und hinsichtlich des Fremden, des Migranten wird beständig auf das Exil in Ägypten Bezug genommen. Dies ist ein richtiggehender »Refrain in den Büchern Deutoronomium, Levitikus… das ist ein Refrain … in den Gebeten…« Es hat den Anschein, fügte der Papst hinzu, dass diese tatsächlich »die Ärmsten waren, auch ärmer als die Sklaven: die Witwe, der Waise, der Fremde, der Ausländer«. Eine Aufmerksamkeit, die sich wieder in der Haltung Jesu findet, der »fähig ist, auf das Detail zu achten«: Dort war eine große Menschenmenge, doch er »schaut dorthin… Jesus sieht mit dem Herzen.«

Anschließend sprach der Papst über das Verhalten Jesu und machte »drei Worte« aus, »die uns helfen zu verstehen, was er getan hat«, um der Witwe nahe zu sein, um »auf demselben Weg zu gehen«. Vor allem »hatte er Mitleid«. Es ist nämlich zu lesen: »Als der Herr die Frau sah, hatte er Mitleid mit ihr.« Das Mitleid, so Franziskus, »ist ein Gefühl, das einen einnimmt, es ist ein Gefühl des Herzens, des tiefsten Inneren. Es nimmt alles ein.« Vor allem »ist es nicht dasselbe wie ein ›oberflächliches Mitgefühl‹, oder einer, der sagt: »›Schade, die armen Leute!‹ Nein, das ist nicht dasselbe.« Das Mitleid nämlich »involviert. Es ist ein ›Leiden-mit‹.« Und Jesus »lässt sich von der Witwe und einem Waisen involvieren«. Jemand könnte einwenden: »Aber sag mal, da ist eine ganze Menge von Leuten hier für dich, warum sprichst du nicht zur Menschenmenge? Lass es sein… So ist das Leben… Das sind Tragödien, die passieren, zu denen es kommt…« Nein, Jesus handelt anders. »Für ihn sind jene Witwe und jene tote Waise wichtiger als die Menge, zu der er sprach und die ihm folgte.« Weil »sein Herz, sein Innerstes beteiligt sind. Der Herr hat sich mit seinem Mitleid von diesem Fall ergreifen lassen. Er hatte Mitleid.«

Dann ist da ein »zweites Wort«, das zu beachten ist: Jesus »trat näher«. Das Mitleid hat hin dazu gedrängt, sich zu nähern. Franziskus erklärte: »Sich nähern ist Zeichen des Mitleids. Vieles kann ich sehen, ohne aber näher zu treten. Vielleicht spüre ich einen Schmerz… Ach, die armen Leute…« Und trotzdem ist es etwas anderes, sich zu nähern. Das Evangelium fügt ein Detail hinzu. Jesus sagte zur Frau: »Weine nicht!« Und der Papst erklärte diesbezüglich: »Gern stelle ich mir vor, dass der Herr, als er das zu jener Frau sagte, sie liebkoste.« Er »hat die Frau berührt und er hat die Bahre angefasst«. Es ist notwendig, »sich zu nähern und die Wirklichkeit anzufassen. Nicht sie aus der Ferne anschauen.«

Dann kommt es zum Wunder der Auferweckung des Sohnes der Witwe. Und »Jesus sagt nicht: ›Auf Wiedersehen, ich gehe jetzt weiter‹«, sondern »er nimmt den Jungen und was sagt er? ›Er gab ihn seiner Mutter zurück.‹« Das also ist das dritte Schlüsselwort: »Zurückgeben: Jesus wirkt Wunder, um zurückzugeben, um die Menschen an ihren Platz zu setzen. Und das ist es, was er durch die Erlösung getan hat.« Gott »hatte Mitleid. Er näherte sich uns in seinem Sohn, und er gab uns allen die Würde der Kinder Gottes zurück. Er hat uns alle neu geschaffen.«

Ein Beispiel, dem jeder Christ im Alltag folgen muss: »Auch wir müssen dasselbe tun«, erklärte der Papst und führte ein konkretes Beispiel an. Es kommt nämlich vor, dass »wir die Nachrichten oder die Titelseiten der Zeitungen anschauen, die Tragödien… Ja da schau her, in jenem Land haben die Kinder nichts zu essen; in jenem Land gibt es Kindersoldaten; in jenem Land werden die Frauen versklavt; in Jenem Land… Oh, was für eine Katastrophe! Arme Leute…« Dann aber »blättere ich weiter und gehe zum Roman über, zur Telenovela, die nachher kommt. Und das ist nicht christlich.«

Daher die Einladung zu einer Gewissenserforschung: »Bin ich fähig, Mitleid zu haben? Zu beten? Wenn ich diese Dinge sehe, die mir da durch die Medien ins Haus getragen werden… Rührt sich da mein Innerstes? Leidet das Herz wirklich mit diesen Menschen, oder spüre ich nur etwas Schmerz und sage dann: ›Arme Leute‹«, und das ist alles? Und wenn wir uns dessen bewusst werden, fügte Franziskus hinzu, müssen wir »um die Gnade bitten: ›Herr, schenke mir die Gnade des Mitleids!‹«

Ebenso, wenn man einem Bedürftigen begegnet: »Trete ich näher? Es gibt viele Weisen, sich zu nähern… Oder versuche ich, aus der Ferne zu helfen?« Denn es gibt da jene, die sich rechtfertigen, indem sie sagen: »Wissen Sie, Pater, diese Leute stinken. Ich mag das nicht riechen, denn diese Leute duschen nicht, sie stinken…« Und weiter sollte sich jeder Christ fragen: »Bin ich – mit dem Fürbittgebet, mit meiner Arbeit als Christ – in der Lage, zu helfen, die Leidenden in die Gesellschaft zurückzubringen: im Bereich des Familienlebens, der Arbeit, das heißt im alltäglichen Leben?«

Daher lud der Papst die Gläubigen abschließend ein, über diese drei Worte nachzudenken. »Sie werden uns helfen: Mitleid, sich nähern, zurückbringen.« Er forderte zum Gebet auf, damit »der Herr uns die Gnade schenken möge, angesichts so vieler leidender Menschen Mitleid zu haben und ihnen nahe zu sein, sowie die Gnade, sie an der Hand zu nehmen und zu jenem Platz der Würde zu bringen, den Gott für sie will«.



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