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ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
AN DIE FAMILIE DES FINDELHAUS "OSPDALE DEGLI INNOCENTI" IN FLORENZ

Konsistoriensaal
Freitag, 24. Mai 2019

[Multimedia]


 

Liebe Brüder und Schwestern!

Ich hatte eine Ansprache für euch vorbereitet, aber es ist ein bisschen langweilig, sie vorzulesen… Ich ziehe es vor, einige persönliche Worte an euch zu richten und vor allem jeden einzelnen von euch zu begrüßen.

Sie [die Präsidentin des Instituts] haben einen berührenden Ausdruck verwendet: die »Kultur des Kindes«. Heute müssen wir sie wieder aufnehmen. Die Kultur der Kinder. Es ist eine Kultur der Überraschung, sie wachsen zu sehen, zu sehen, wie sie sich vom Leben überraschen lassen, wie sie mit dem Leben in Kontakt kommen. Und wir müssen lernen, dasselbe zu tun. Diesen Weg, den wir alle als Kinder gegangen sind, müssen wir wieder aufnehmen. Sie zitierten das Markusevangelium: »Lasst die Kinder zu mir kommen…«; es gibt da aber auch andere Abschnitte aus dem Evangelium, in denen Jesus noch weiter geht: Er sagt nicht nur, die Kinder aufzunehmen, und dass wer sie aufnimmt, ihn aufnimmt, sondern er geht darüber hinaus: »Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen.«

Und das ist es, was uns die Kultur des Kindes beibringen muss. Wir müssen gewissermaßen zur Einfachheit eines Kindes und vor allem zur Fähigkeit zurückkehren, uns überraschen zu lassen. Die Überraschungen! Unser Gott ist der Gott der Überraschungen, und das müssen wir lernen. Vielen Dank für das, was Sie gesagt haben und für diese Geschichte…

Und ich möchte auch noch etwas anderes sagen, das ich von Ihnen aufgreifen möchte: diese geteilten Medaillen… [eine Hälfte für das Kind und die andere Hälfte für die Mutter, die es im Institut zurückgelassen hat]. Heute gibt es auf der Welt viele Kinder, die ideell eine Hälfte der Medaille haben. Sie sind allein. Die Kriegsopfer, die Migrationsopfer, die unbegleiteten Kinder, die Opfer des Hungers. Kinder mit der einen Hälfte der Medaille. Und wer hat die andere Hälfte? Die Mutter Kirche. Wir haben die andere Hälfte. Wir müssen darüber nachdenken und den Menschen verständlich machen, dass wir für diese andere Hälfte verantwortlich sind, und wir müssen dazu beitragen, dass heute mit der Haltung der Adoption ein weiteres, globaleres »Haus der Unschuldigen « geschaffen wird. Es gibt so viele Leute, die Kinder adoptieren wollen, aber da ist so viel Bürokratie – und ab und zu kommt Korruption ins Spiel kommt, da zahlst du und… Aber helft mir dabei, das Bewusstsein zu verbreiten, dass wir die andere Hälfte der Medaille dieses Kindes haben.

Viele, sehr viele Familien, die keine Kinder haben und sicherlich den Wunsch hätten, eines zu adoptieren: vorwärts gehen, eine Kultur der Adoption schaffen, weil es so viele verlassene Kinder gibt, die allein sind, die Opfer von Kriegen und anderem; damit die Leute lernen, auf diese Hälfte zu schauen und zu sagen: »Ich habe auch so eine Hälfte«. Ich bitte euch, daran zu arbeiten. Und danke!

Im Folgenden die überreichte Ansprache des Heiligen Vaters im vollen Wortlaut:

Liebe Brüder und Schwestern!

Ich begrüße euch alle, die Leiter und Mitarbeiter des »Istituto degli Innocenti«, und euch, die Jungen und Mädchen, die ihr die Protagonisten dieser Institution seid, die seit sechshundert Jahren Kinder aufnimmt, ihnen beisteht und sie fördert. Als ich im Jahr 2015 anlässlich des V. Nationalen Kongresses der Kirche in Italien nach Florenz kam und über die Schönheit der Stadt sprach, kam ich nicht umhin, daran zu erinnern, dass viel von jener Schönheit in den Dienst der Nächstenliebe gestellt worden war, und dabei führte ich als Beispiel gerade das »Spedale degli Innocenti« an. Ich erinnerte daran, dass »einer der ersten Renaissancebauten […] zum Dienst an den verlassenen Kindern und verzweifelten Müttern errichtet [wurde]« (Ansprache auf dem V. Nationalen Kongress der Kirche in Italien, Florenz, 10. November 2015).

Das »Istituto degli Innocenti« mit seiner sechs Jahrhunderte langen Geschichte – einer Geschichte, die nicht abgeschlossen ist, sondern auf die Zukunft blickt –berichtet uns von einer Stadt, die ihr Bestes gegeben hat für die Aufnahme der Kinder, damit sie nicht mehr als die »Verlassenen« bezeichnet werden müssten, sondern die Aufgenommenen, die der Liebe und Fürsorge der Gemeinschaft anvertraut waren. Die Geschichte des »Innocenti« ist eine Geschichte, die uns vieles lehren kann. Zunächst steht an seinem Anfang die Großherzigkeit eines reichen Bankiers, Francesco Datini, der den Betrag stiftete, mit dem die Verwirklichung dieses Werkes in Angriff genommen werden konnte. Auch heute stellt die soziale und ethische Verantwortung der Finanzwelt einen unverzichtbaren Wert für den Aufbau einer gerechteren und solidarischeren Gesellschaft dar.

Das andere auffallende Element bei dieser Geschichte ist, dass die Planung Filippo Brunelleschi, dem bedeutendsten Architekten seiner Zeit, anvertraut wurde, der gerade in jenen Jahren an einem Meisterwerk arbeitete, das die Welt noch heute in Erstaunen versetzt: der Kuppel der Kathedrale »Santa Maria del Fiore«. Um dieselbe Schönheit, die dem Haus des Herrn gewidmet ist, auch dem Haus der Kinder zu widmen, die weniger Glück haben. Denn es war nicht genug, die Kinder, die der Aufnahme bedurften, mit der Milch der Ammen zu nähren, man wollte sie in einer Umgebung aufwachsen lassen, die so schön wie möglich sein sollte.

Und seit 600 Jahren ist es nun das Anliegen des »Istituto degli Innocenti«, seinen Jungen und Mädchen all das zu bieten, dessen sie bedürfen, um in Würde aufzuwachsen. Das ist eine Wahrheit, die heute mit Nachdruck gesagt werden muss: den Armen, den zerbrechlichen Kreaturen, denen, die in den Peripherien leben, müssen wir das Beste bieten, das wir haben. Und unter den zerbrechlichsten Menschen, für die wir sorgen müssen, sind mit Sicherheit viele abgelehnte Kinder, die ihrer Kindheit und ihrer Zukunft beraubt sind; Minderjährige, die verzweifelte Reisen auf sich nehmen, um vor Hunger oder Krieg zu fliehen. Kinder, die nie das Licht der Welt erblicken, da ihre Mütter wirtschaftlich, sozial und kulturell so unter Druck stehen, dass sie dazu gebracht werden, auf das wunderbare Geschenk der Geburt eines Kindes zu verzichten.

Wie sehr bedürfen wir doch einer Kultur, die den Wert des Lebens anerkennt, vor allem des schwachen, bedrohten, angegriffenen Lebens, und die sich, statt darüber nachzudenken, es absondern zu können, es mit Mauern und Abschottungen auszuschließen, darum bemüht, Fürsorge und Schönheit anzubieten! Eine Kultur, die in jedem Gesicht, auch im kleinsten, das Gesicht Jesu erkennt: »Wer ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf« (Mt 18,5).

Das »Istituto degli Innocenti« ist ein Ort der Geschichte, aber auch der Geschichten: von kleineren Geschichten, die aber ebenso faszinierend sind. Es sind die Geschichten von Hunderttausenden von Kindern, die in diesen Wänden gelebt haben. Ebenfalls während des Kongresses von Florenz habe ich auf einen besonderen Aspekt hingewiesen: auf die Tatsache, dass die Mütter oft mit den Neugeborenen auch die Hälfte einer zerbrochenen Medaille hinterließen, in der Hoffnung, in besseren Zeiten ihre Kinder wiedererkennen zu können, wenn sie die andere Hälfte vorzeigten. »Nun – sagte ich – wir müssen uns vorstellen, dass unsere Armen eine zerbrochene Medaille haben. Wir haben die andere Hälfte. Denn die Mutter Kirche in Italien hat die eine Hälfte der Medaille aller Menschen und erkennt alle ihre verlassenen, unterdrückten, erschöpften Kinder«.

Heute lautet das Ziel, das wir uns auf den verschiedenen Ebenen der Verantwortung setzen müssen, dass keine Mutter in die Lage kommen darf, ihr Kind verlassen zu müssen. Wir müssen aber auch sicherstellen, dass es trotz aller tragischen Ereignisse, die einen Jungen oder ein Mädchen von seinen Eltern trennen können, Strukturen und Wege der Aufnahme gibt, in denen die Kindheit stets auf die einzig würdige Weise geschützt und versorgt wird: indem den Kindern das Beste gegeben wird, was wir ihnen bieten können. In Erinnerung an die Worte Jesu, der uns alle einlädt, so wie ihr zu werden, wie die Kinder, um in das Himmelreich hineinkommen können.

Das lehrt uns das »Istituto degli Innocenti« mit seiner jahrhundertealten Geschichte, mit den Tausenden von Geschichten, die es beherbergt hat, und mit den Geschichten, die heute auch ihr, Jungen und Mädchen, mit euren freudestrahlenden Gesichtern erzählt. Und dafür danke ich den Leitern, den Mitarbeitern und allen, die zur Durchführung der verschiedenen Aktivitäten des »Istituto degli Innocenti« beitragen. Ich danke euch und lade euch ein, euren Dienst mit Kompetenz und Zärtlichkeit, Professionalität und Hingabe fortzusetzen. Dafür bete ich und ich segne euch. Und ich bitte euch, für mich zu beten.

 

 



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