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JOHANNES PAUL II.

GENERALAUDIENZ

Mittwoch, 12. Juni 2002

 

Lesung aus Psalm 92: 
1 Ein Loblied auf die Treue Gottes [Ein Psalm. Ein Lied für den Sabbattag.] 
2 Wie schön ist es, dem Herrn zu danken, deinem Namen, du Höchster, zu singen, 
3 am Morgen deine Huld zu verkünden und in den Nächten deine Treue 
4 zur zehnsaitigen Laute, zur Harfe, zum Klang der Zither. 
5 Denn du hast mich durch deine Taten froh gemacht; Herr, ich will jubeln über die Werke deiner Hände. 
6 Wie groß sind deine Werke, o Herr, wie tief deine Gedanken! 
7 Ein Mensch ohne Einsicht erkennt das nicht, ein Tor kann es nicht verstehen. 
8 Wenn auch die Frevler gedeihen / und alle, die Unrecht tun, wachsen, so nur, damit du sie für immer vernichtest. 
9 Herr, du bist der Höchste, du bleibst auf ewig. 
10 Doch deine Feinde, Herr, wahrhaftig, deine Feinde vergehen; auseinandergetrieben werden alle, die Unrecht tun. 
11 Du machtest mich stark wie einen Stier, du salbtest mich mit frischem Öl. 
12 Mein Auge blickt herab auf meine Verfolger, / auf alle, die sich gegen mich erheben; mein Ohr hört vom Geschick der Bösen. 
13 Der Gerechte gedeiht wie die Palme, er wächst wie die Zedern des Libanon. 
14 Gepflanzt im Hause des Herrn, gedeihen sie in den Vorhöfen unseres Gottes. 
15 Sie tragen Frucht noch im Alter und bleiben voll Saft und Frische; 
16 sie verkünden: Gerecht ist der Herr; mein Fels ist er, an ihm ist kein Unrecht. 

1. Der Psalm 92, der soeben als Lied des Gerechten an Gott, den Schöpfer, erklungen ist, nimmt in der altjüdischen Tradition einen besonderen Platz ein. In der Tat zeigt der Titel des Psalms an, daß dieser für den Sabbattag bestimmt ist (vgl. V. 1). Er ist also das Lied, das zum ewigen und erhabenen Herrn aufsteigt, wenn man am Freitag bei Sonnenuntergang in den geheiligten Tag des Gebets, der Kontemplation und der Ruhe des Leibes und Geistes eintritt. 

Im Mittelpunkt des Psalms steht der erhabene große Gott, der Höchste (vgl. V. 9); um ihn herum zeichnet sich eine harmonische und befriedete Welt ab. Vor ihm steht auch die Person des Gerechten, der nach einer im Alten Testament beliebten Vorstellung mit Wohlstand, Freude und langem Leben als natürlicher Folge seines redlichen und treuen Daseins belohnt wird. Es handelt sich um die sogenannte »Vergeltungstheorie«, wonach jedes Verbrechen schon auf Erden bestraft und jede gute Tat belohnt wird. Diese Ansicht enthält zwar ein Körnchen Wahrheit, aber – wie Ijob vermuten läßt und Jesus hervorhebt (vgl. Joh 9, 2 –3), ist die Wirklichkeit des menschlichen Leidens viel komplexer und kann nicht so leicht vereinfacht werden. Das menschliche Leid muß unter dem Blickwinkel der Ewigkeit betrachtet werden. 

2. Untersuchen wir nun dieses Weisheitslied mit liturgischen Anklängen näher. Es besteht aus einem allgemeinen Aufruf zum Lob und Dank, zu frohem Gesang und festlicher Musik, die sich aus der zehnsaitigen Laute, der Harf und der Zither zusammensetzt (vgl. V. 2–4). Die Liebe und Treue des Herrn sollen durch den liturgischen Gesang gepriesen werden: Ihm soll ein Psalmenlied »gespielt« werden (vgl. Ps 47, 8). Diese Einladung gilt auch für unsere Feiern, damit sie nicht nur in den Worten und Riten, sondern auch in ihren Begleitmelodien neuen Glanz erhalten. 

Nach dieser Aufforderung, den inneren und äußeren Gebetsfaden, den wahren beständigen Atem der gläubigen Menschheit, nie abreißen zu lassen, zeichnet der Psalm 92 gleichsam in zwei Bildern das Profil des Menschen ohne Einsicht (vgl. V. 7–10) und des Gerechten (vgl. V. 13–16). Der Frevler wird aber dem Herrn, dem »Höchsten« (V. 9), gegenübergestellt, der seine Feinde umkommen läßt und alle Übeltäter zerstreut (V. 10). Allein im göttlichen Licht gelingt es, das Gute und das Böse, die Gerechtigkeit und die Verirrung, wirklich zu verstehen. 

3. Der Sünder wird durch in Bild aus der Pflanzenwelt beschrieben: »Wenn auch die Frevler gedeihen und alle, die Unrecht tun, wachsen« (V. 8). Aber dieses Gedeihen ist dazu bestimmt, zu vertrocknen und zu vergehen. Der Psalmist intensiviert die Ausdrucksweise, mit der er die Zerstörung beschreibt: »So nur, damit du sie für immer vernichtest … Herr, wahrhaftig, deine Feinde vergehen; auseinandergetrieben werden alle, die Unrecht tun« (V. 8.10). 

Wurzel dieses unglückseligen Ausgangs ist das innere Böse, das Sinn und Herz des Toren beherrscht: »Ein Mensch ohne Einsicht erkennt das nicht, ein Tor kann es nicht verstehen« (V. 7). Die hier verwendeten Worte gehören zur Sprache der Weisheitsliteratur und bezeichnen die Brutalität, Blindheit und Beschränktheit dessen, der meint, auf Erden ohne moralische Grenzen wüten zu können, und sich der Illusion hingibt, Gott sei abwesend und unbeteiligt. Der Beter hingegen ist sich sicher, daß der Herr früher oder später erscheinen wird, um Gericht zu halten und die Überheblichkeit der Uneinsichtigen zu beugen (vgl. Ps 13). 

4. Nun haben wir die Gestalt des Ger chten vor uns, der in kräftigen Farben beschrieben wird. Auch in diesem Fall bedient man sich eines frischen, duftigen Bildes (vgl. Ps 91, 13 –16). Im Unterschied zum Frevler, der wie das üppige Gras auf dem Feld vergeht, wächst der Gerechte zum Himmel, fest und majestätisch wie die Palme und die Zeder vom Libanon. Die Gerechten sind »gepflanzt im Haus des Herrn« (V. 14), das heißt, sie haben eine außerordentliche feste und dauerhafte Beziehung zum Tempel und damit zum Herrn, der darin Wohnung genommen hat. 

Die christliche Tradition spielt auch mit der Doppelbedeutung des griechischen Wortes phoinix, das bei der Übersetzung des hebräischen Wortes für Palme verwendet wird. Phoinix ist die griechische Bezeichnung für Palme, aber auch für die Vogelart »Phönix«. Bekanntlich ist der Phönix das Symbol für Unsterblichkeit, denn man glaubte, das dieser Vogel aus seiner Asche wiedergeboren würde. Der Christ macht eine ähnliche Erfahrung durch seine Teilhabe am Tod Christi, der Quelle des neuen Lebens (vgl. Röm 6, 3 –4). »Gott hat uns, die wir infolge unserer Sünden tot waren, […] mit Christus wieder lebendig gemacht«, heißt es im Epheserbrief :»Er hat uns mit Christus auferweckt« (2, 5–6).  

5. In einem weiteren Bild wird der Gerechte mit einem Tier verglichen, das die Kraft verdeutlichen soll, die Gott ausspendet, auch wenn das Alter vor der Tür steht: »Du machtest mich stark wie einen Stier, du salbtest mich mit frischem Öl« (Ps 92, 11). Die göttliche Kraft führt erstens zum Sieg und schenkt Sicherheit (vgl. V. 12); zweitens wird die ruhmvolle Stirn des Gerechten mit Öl gesalbt, das Kraft, Schutz und Segen ausstrahlt. Psalm 92 ist also ein optimistisches Lied, das durch die Begleitmusik und den Gesang noch verstärkt wird. Es feiert die Zuversicht und das Vertrauen auf Gott, der die Quelle der Gelassenheit und des Friedens ist, auch wenn man den scheinbaren Erfolg des Übeltäters erlebt. Eines Friedens, der auch im vorgerückten Alter noch unversehrt ist (vgl. V. 15), in einem Lebensabschnitt, der dennoch in Fruchtbarkeit und Sicherheit gelebt wird. 

Wir schließen mit den von Hieronymus übersetzten Worten des Origenes, die von dem Satz ausgehen, in dem der Psalmist zu Gott sagt: »Du salbtest mich mit frischem Öl« (V. 11). Origenes kommentiert: »Unser vorgerücktes Alter braucht das göttliche Öl. So wie unser Körper, wenn er müde ist, sich nur erfrischt, wenn er mit Öl gesalbt wird, oder wie die Flamme in der Laterne erlischt, wenn kein Öl nachgegossen wird: So braucht auch das Flämmchen meines vorgerückten Alters, wenn es wachsen soll, das Öl der Barmherzigkeit Gottes. Übrigens sind auch die Apostel auf den Ölberg gegangen (vgl. Apg 1, 12), um das Licht, das Öl des Herrn, zu empfangen, denn sie waren müde, und ihre Laternen brauchten das Öl des Herrn … Bitten wir also den Herrn, das unser vorgerücktes Alter und alle unser Mühe und Finsternis vom Öl des Herrn rhellt werden« (74 Homilien über das Buch der Psalmen, Mailand 1993, S. 280–282, passim). 


Liebe Schwestern und Brüder!

Der gerechte Mensch preist Gott, den Schöpfer, für alle seine Werke und Wohltaten. Die jüdische Tradition hat Psalm 92 eine Sonderstellung im Leben der Gläubigen eingeräumt: Er wurde am Sabbattag gebetet, dem Tag des Gebetes, der Betrachtung und der Ruhe für Leib und Geist. 

Im Mittelpunkt des Psalms erhebt sich feierlich die Gestalt des höchsten Gottes umgeben von einer harmonischen und friedlichen Welt: „Herr, du bist der Höchste, du bleibst auf ewig" (Ps 92, 9). 

Das Leben des Gerechten dient dem Lobpreis Gottes, der ihn mit Freude und Wohlergehen belohnt. Demgegenüber steht dem Frevler ein schlimmes Ende bevor, auch wenn er sich zunächst glücklich schätzt. Der gläubige Mensch lebt aus der Gewißheit, daß am Ende der Herr erscheinen wird, um Gerechtigkeit walten zu lassen. 

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Von Herzen heiße ich alle Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache willkommen. Möge Gottes Liebe und Treue Euer Beten inspirieren! Euch allen und Euren Lieben daheim sowie allen, die mit uns über Radio Vatikan oder das Fernsehen verbunden sind, erteile ich gerne den Apostolischen Segen.

 



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