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JOHANNES PAUL II. 

GENERALAUDIENZ

Mittwoch, 13. November 2002

 

Lesung aus Psalm 87: 

1 Ein Loblied auf Zion, die Mutter aller Völker [Ein Psalm der Korachiter. Ein Lied.] 
2 Der Herr liebt (Zion), seine Gründung auf heiligen Bergen; mehr als all seine Stätten in Jakob liebt er die Tore Zions. 
3 Herrliches sagt man von dir, du Stadt unseres Gottes. [Sela] 
4 Leute aus Ägypten und Babel zähle ich zu denen, die mich kennen; auch von Leuten aus dem Philisterland, /aus Tyrus und Kusch sagt man: Er ist dort geboren. 
5 Doch von Zion wird man sagen: Jeder ist dort geboren. Er, der Höchste hat Zion gegründet. 
6 Der Herr schreibt, wenn er die Völker verzeichnet: Er ist dort geboren. [Sela] 
7 Und sie werden beim Reigentanz singen: All meine Quellen entspringen in dir. 

 

Liebe Brüder und Schwestern!

1. Das soeben gehörte Canticum über Jerusalem, die Stadt des Friedens und universale Mutter, steht leider im krassen Gegensatz zur geschichtlichen Erfahrung, die die Stadt durchlebt. Aber Aufgabe des Gebets ist es, Zuversicht zu säen und Hoffnung zu wecken. 

Die weltumspannende Perspektive von Psalm 87 mag an den Hymnus des Buches Jesaja denken lassen, der alle Völker nach Zion strömen sieht, wo sie das Wort des Herrn hören und die Schönheit des Friedens entdecken, indem sie »Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen« schmieden (vgl. 2, 2-5). In Wirklichkeit ist der Psalm aus einem ganz anderen Blickwinkel zu sehen, aus dem einer Bewegung, die aber nicht nach Zion hingeht, sondern von Zion ausgeht. Der Psalmist sieht in Zion den Ursprung aller Völker. Nachdem der Primat der Heiligen Stadt keinen historischen oder kulturellen Verdiensten, sondern nur der Liebe zuzuschreiben ist, die Gott auf sie ausgegossen hat (vgl. Ps 87, 1-3), beginnt der Psalm mit einer Würdigung eben dieses Universalismus, der alle Völker verbrüdert. 

2. Zion wird besungen als Mutter der ganzen Menschheit und nicht nur von Israel. Eine solche Aussage ist sehr gewagt. Der Psalmist weiß das und betont es: »Herrliches sagt man von dir, du Stadt unseres Gottes« (V. 3). Wie kann die bescheidene Hauptstadt einer kleinen Nation als Ursprung viel mächtigerer Völker vorgestellt werden? Woher nimmt Zion diese ungeheure Anmaßung? Die Antwort wird im selben Satz gegeben: Zion ist Mutter der ganzen Menschheit, weil es die »Stadt Gottes« ist und damit die Grundlage für den Plan Gottes bildet. 

Alle Himmelsrichtungen der Erde stehen in Beziehung zu dieser Mutter:Raab, das heißt Ägypten, der große westliche Staat;Babel, die bekannte Macht im Osten; Tyrus als das Handelsvolk im Norden, während Äthiopien den tiefen Süden und Palästina das zentrale Gebiet, das auch Tochter Zions ist, darstellen. 

In der geistlichen Namensliste von Jerusalem sind alle Völker der Erde verzeichnet: dreimal wiederholt sich die Formel »dort geboren« (V. 4.5.6). Es ist die offizielle Rechtsformel, mit der man damals erklärte, daß eine Person in einer bestimmten Stadt geboren worden war und dadurch die vollen Bürgerrechte dieses Volkes besaß. 

3. Es beeindruckt, wenn man sogar die Israel feindlich gesinnten Nationen nach Jerusalem strömen sieht, wo sie nicht als Fremde, sondern als »Verwandte« aufgenommen werden. Ja der Psalmist verwandelt die Prozession dieser Völker nach Zion in einen vielstimmigen Gesang und fröhlichen Tanz: Sie finden ihre »Quellen« (vgl. V. 7) in der Stadt Gottes wieder, von der sich ein Strom lebendigen Wassers verzweigt, der die ganze Welt befruchtet in der Richtung, wie sie von den Propheten verkündet wird (vgl. Ez 47, 1-12; Zacch 13, 1; 14, 8; Offb 22, 1-2). 

Alle sollen in Jerusalem ihre geistlichen Wurzeln entdecken, sich hier beheimatet fühlen, sich als Glieder derselben Familie zusammenfinden, sich als Geschwister umarmen, die nach Hause zurückgekehrt sind. 

4. Psalm 87 ist eine Seite wahren interreligiösen Dialogs; er sammelt das weltumspannende Erbe der Propheten (vgl. Jes 56, 6-7; 60, 6-7; 66, 21; Jona 4, 10-11; Mal 1, 11 usw.) und nimmt die christliche Tradition vorweg, die diesen Psalm auf das »himmlische Jerusalem« anwendet, von dem Paulus sagt, daß es »frei und unsere Mutter« ist und mehr Kinder als das irdische Jerusalem hat (vgl. Gal 4, 26-27). Nichts anderes sagt die Offenbarung, wenn sie singt :»…die Heilige Stadt Jerusalem, die von Gott her aus dem Himmel herabkam« (vgl. 21, 2.10). 

Auf derselben Linie wie Psalm 87 betrachtet auch das II. Vatikanische Konzil die weltumspannende Kirche als den Ort, an dem »alle Gerechten von Adam an, von dem gerechten Abel bis zum letzten Erwählten …versammelt werden«. Sie wird »am Ende der Weltzeiten in Herrlichkeit vollendet werden« (Lumen gentium, 2).

5. Diese ekklesiologische Auslegung des Psalms wird in der christlichen Tradition für die marianische Neuauslegung zugänglich. Jerusalem war für den Psalmisten eine wahre »Weltstadt«, das heißt eine »Mutter-Stadt«, in deren Mitte der Herr selbst gegenwärtig ist (vgl. Zef 3, 14-18). In diesem Licht besingt das Christentum Maria als Tochter Zions, in deren Schoß das fleischgewordene Wort empfangen wird und in der Folge die Kinder Gottes geschaffen werden. Die Stimmen der Kirchenväter, von Ambrosius von Mailand bis Athanasius von Alexandrien, von Maximus dem Bekenner zu Johannes Damaskenus, von Chromatius von Aquileia bis Germanus von Konstantinopel, stimmen in dieser christlichen Neuauslegung von Psalm 87 überein. 

Wir wollen jetzt einen Meister der armenischen Tradition, Gregor von Narek (ca. 950 –1010), hören, der sich in seiner Lobrede auf die seligste Jungfrau Maria mit folgenden Worten an sie wendet: »Indem wir uns unter deine würdigste und mächtige Fürsprache flüchten, sind wir geschützt, o heilige Gottesgebärerin, und finden Erquickung und Ruhe unter deinem Schutz wie unter einer starken befestigten Mauer: Sie ist mit eingesetzten reinsten Brillanten geschmückt und in Feuer gehüllt, darum uneinnehmbar für die Angriffe der Räuber;sie ist eine funkensprühende Mauer, unangreifbar und unzugänglich für die grausamen Verräter; eine Mauer, die von allen Seiten befestigt ist, gemäß David, deren Fundamente vom Höchsten gegründet wurden (vgl. Ps 87, 1.5); die Mauer einer erhabenen Stadt, wie Paulus sagt (vgl. Gal 4, 26; Hebr 12, 22), in der du alle als Bewohner aufgenommen hast, denn durch die leibliche Geburt Gottes hast du die Kinder des irdischen Jerusalems zu Kindern des himmlischen Jerusalems gemacht. Darum preisen ihre Lippen deinen jungfräulichen Schoß, und alle bekennen dich als Wohnung und Tempel dessen, der eines Wesens mit dem Vater ist. Zu Recht sagt der Prophet von dir: ›Du warst unsere Zuflucht und Hilfe gegen die Sturzbäche in den Tagen der Angst und Not‹ (vgl. Ps 45, 2)« (Testi mariani del primo millennio, IV, Roma, 1991, S. 589). 


Das alttestamentliche Bild der Gottesstadt ist von je her die „Heimatvision“ der Gläubigen: „Herrliches sagt man von dir, du Stadt unseres Gottes!“ (Ps 87, 3). Diese Stadt, vom Allerhöchsten „auf heiligen Bergen“ (Ps 87, 2) fest gegründet, ist das Ziel auf dem Pilgerweg der Gerechten. 

Daher hat die Kirche die Vision der heiligen Stadt in Psalm 87 immer auf sich selbst bezogen. Sie ist die Mutter aller Völker, die sammelt und verbindet. Wer in ihr wohnt, erfährt Heil. Sinnbild dieser Stadt ist Maria, die das ewige Wort empfangen hat, um es der Welt zu schenken: In Jesus Christus werden wir selbst zu Bürgern des Himmlischen Jerusalem.  

***

Einen frohen Gruß richte ich an die Pilger und Besucher, die aus den Ländern deutscher Sprache nach Rom gekommen sind. Euch allen rufe ich zu: Macht euch zu Boten des Friedens und der Liebe! Baut mit an einer Gemeinschaft, in der alle Menschen Heimat und Heil finden! Dazu helfe euch die Gnade Gottes!

       



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