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APOSTOLISCHE REISE IN DIE BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND

LOBPREIS

PREDIGT VON JOHANNES PAUL II.

«Hülsparkstadion» in Kevelaer - Samstag, 2. Mai 1987

 

Sancta Maria, consolatrix afflictorum, ora pro nobis.

Heilige Maria, Trösterin der Betrübten, Mutter Gottes von Kevelaer, bitte für uns. Bitte für uns alle, die wir hier zum Morgengebet der Kirche, den Laudes, zum Gotteslob und zu deinem Lobpreis versammelt sind. Bitte für alle, die sich mit uns heute morgen durch Fernsehen und Rundfunk zu einer großen Gebetsgemeinschaft verbinden.

Liebe Brüder und Schwestern!

1. In großer Freude bin ich heute zu euch nach Kevelaer gekommen. Mein erster Weg in diesem Wallfahrtsort führte mich zum Gnadenbild der Trösterin der Betrübten. Vor diesem Bild habe ich gebetet und euch alle und auch mich dem besonderen Schutz der Gottesmutter anempfohlen.

Ich komme als Pilger und Beter in der Reihe der ungezählten Menschen, die seit dem Jahre 1642 zur Gottesmutter in Kevelaer wallfahren. Heute eröffne ich selbst die diesjährige Wallfahrtszeit. Nun werden sie wieder nach Kevelaer ziehen: die großen Prozessionen, die kleinen Gruppen und Familien, die vielen Einzelpilger, Menschen aus allen Ständen und Schichten. Sie alle folgen den Spuren der Pilger durch die Jahrhunderte. Eine Prozession des Glaubens, die nicht abreißt. Unübersehbare Scharen von Menschen, die den Lobpreis Marias singen. Das Lied des Glaubens klingt über die Zeiten, über die Länder und die ganze Welt. Es klingt in dieser irdischen Zeit und findet seinen Widerhall in Gottes Ewigkeit.

Die wirklichen Zentren der Welt- und Heilsgeschichte sind nicht die betriebsamen Hauptstädte von Politik und Wirtschaft, von Geld und irdischer Macht. Die wahren Mittelpunkte der Geschichte sind die stillen Gebetsorte der Menschen. Hier vollziehen sich in besonders dichter Weise die Begegnung der irdischen Welt mit der überirdischen Welt, der pilgernden Kirche auf Erden mit der ewigen und siegreichen Kirche des Himmels. Hier geschieht Größeres und für Leben und Sterben Entscheidenderes als in den großen Hauptstädten, wo man meint, am Puls der Zeit zu sitzen und am Rad der Weltgeschichte zu drehen.

2. Bei dem Gnadenbild der Gottesmutter in Kevelaer versammelt, schauen wir heute auf Maria, die den König des Himmels und der Erde auf ihrem Arm trägt. Diese Begegnung mit Maria und Ihrem Sohn ist für uns ein neuer Anruf, eine Aufforderung zu Besinnung und geistlichem Aufbruch. Hier ist der Ort, wo uns die Botschaft des Evangeliums neu zugerufen wird: ”Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mk. 1, 15)

Kehrt um! Hört die Botschaft! Welches ist wohl das Wort, das die Menschen heute am meisten auf ihren Lippen führen? Welches Wort bestimmt am stärksten das Denken und Tun der Menschen? Es ist das kleine Wörtchen: ICH! Was habe ich davon? Was nützt mir das? Was geht das mich an? So fragen wir. Die Ich-Bezogenheit des Menschen beherrscht das private und öffentliche Leben. Ist nicht ”Selbstverwirklichung“ ein besonders oft wiederkehrendes und sehr beliebtes Wort unserer Tage? Ich möchte vor allem zu mir kommen, mich selbst entfalten.

Im Evangelium Christi steht jedoch der Satz: ”Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten“ (Mk. 8, 34). Wie kann der ich-verhaftete Mensch diese Botschaft Christi überhaupt verstehen und sie befolgen? Er ist unfähig, sich selbst loszulassen und zu verzichten. Er hat keine Zeit für den Nächsten und für Gott, kein Brot für den Hungernden, keinen Platz für den Heimatlosen und Asylsuchenden. Er hat keine Liebe. ”Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ Öffnen wir uns wieder neu dieser Botschaft!

3. Hier am Gnadenort der Mutter des Herrn hören wir das Wort, das Maria bei der Verkündigung des Engels gesprochen hat: ”Fiat. Mir geschehe, wie du es gesagt hast“. Marias Geschichte beginnt damit, daß sie DU sagt. Schon damals in Nazaret hat sie jene Satz gesprochen, den uns dann der Herr selber zu beten gelehrt hat: ”Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden“. Maria hat sich bei der Botschaft des Engels nicht in sich verschlossen und verweigert. Sie hatte den Mut zur Hingabe; die Demut, Magd des Herrn zu werden. Und nur deshalb, weil Maria sich dem göttlichen DU geöffnet und seinen Ruf angenommen hat, wird ihr Schoß fruchtbar und darf sie Christus, den Sohn Gottes und Erlöser der Menschheit, gebären. Weil sie Ja zu Gott gesagt hat, wird sie die Mutter eines unendlich großen Volkes, Mutter der Kirche und auch unsere Mutter.

In unserer heutigen Begegnung bei ihrem Gnadenbild lädt uns Maria ein, sie nicht nur in unseren Gebeten anzurufen, sondern vor allem auch ihrem Wort und Beispiel zu folgen. Haben auch wir Mut, wie Maria DU zu sagen, unser Leben auf die Mitmenschen und auf Gott hin zu öffnen! Seid Menschen, die bereit sind, für andere da zu sein und in der Liebe zum Nächsten ihre Liebe zu Gott konkret zu leben (1 Joh. 4, 20). Unsere Öffnung zum göttlichen DU verlangt notwendig unsere liebende Hinwendung zu unseren Brüdern und Schwestern. Erst der hingebende Dienst am Nächsten macht uns fähig zum würdigen und wohlgefälligen Gottesdienst.

4. Als Magd des Herrn war Maria bereit zur selbstlosen Hingabe, zu Verzicht und Opfer, zur Christusnachfolge bis unter das Kreuz. Sie verlangt von uns die gleiche Haltung und Bereitschaft, wenn sie uns auf Christus verweist und auffordert: ”Was er euch sagt, das tut!“ (Joh. 2, 5). Maria will uns nicht an sich binden, sondern ruft uns in die Nachfolge ihres Sohnes. Um aber wahrhaft seine Jünger zu werden, müssen wir - wie Christus selbst uns lehrt - von uns wegschauen, uns aus unserer eigenen Selbstgefälligkeit befreien und wie Maria ganz auf Christus einlassen; müssen wir seiner Wahrheit folgen, die er selbst uns als einzigen Weg zum wahren, zum unvergänglichen Leben anbietet.

”Was er euch sagt, das tut!“. Eine solche konkrete Nachfolge Christi verlangt von uns die gläubige Annahme seines Wortes, die Bereitschaft zu Gehorsam und Hingabe, die bewußte Bindung unserer Freiheit an seine Wahrheit, an seine Gebote. Wir müssen nach dem Vorbild und in der Haltung Marias unser ganz persönliches Fiat sprechen: ”Mir geschehe, wie du es gesagt hast“. Oder wie Christus selbst beten: ”Nicht wie ich will, sondern wie du willst“ (Mt. 26, 39). Nur ein solches bereites Eingehen auf Christus und seine Botschaft kann uns zu unserer wahren Selbstverwirklichung führen. Wahre Selbstverwirklichung geschieht nur, wenn wir die in uns grundgelegte Gottesebenbildlichkeit voll zur Entfaltung bringen. Nehmt als sicheren Wegweiser zu diesem Ziel das Wort der Heiligen Schrift und die verbindliche Lehre der Kirche. Hier in Kevelaer empfehle ich euch auch noch besonderes das wertvolle Buch der ”Nachfolge Christi“ des Augustiner-Chorherrn Thomas von Kempen, das hier in eurer näheren Heimat vor mehreren Jahrhunderten verfaßt wurde. Es ist ein geistlicher Wegweiser von bleibendem Wert.

Erbitten wir also für den Weg unserer Christusnachfolge in einer besonderen Weise die Fürsprache und Hilfe der Gottesmutter. Sie zeigt und führt uns mit sicherer Hand den Weg zu Christus und mit ihm zum Vater. Ich empfehle euch heute neu ihrer mütterlichen Sorge. Zugleich ermutige ich euch zu einer innigen Verehrung der Gottesmutter; jetzt im Monat Mai, der ja ihr geweiht ist, und dann im bald beginnenden Marianischen Jahr.

Liebe Brüder und Schwestern!

5. Als wir unser heutiges Morgenlob der Kirche begonnen haben, habe ich euch zugerufen: Pax vobis! Der Friede sei mit euch! Damit habe ich ein Wort gesagt, das eine Grundsehnsucht aller Menschen ausdrückt: Friede; Friede im eigenen Herzen und Friede in der Welt. In der Lauretanischen Litanei bekennen wir Maria auch als ”Königin des Friedens“ und bitten sie um ihren Beistand.

Um der Welt den Frieden zu schenken, nach dem sich die Menschheit sehnt, braucht es mehr als die Konferenzen der Politiker, braucht es mehr als Verträge, als von Menschen versuchte Politik der Entspannung - so wichtig und notwendig auch diese sind. Die vom Unfrieden heimgesuchte Welt braucht vor allem den Frieden Christi. Und dieser ist mehr als bloßer politischer Friede. Der Friede Christi kann nur dort einziehen, wo Menschen bereit sind, sich von der Sünde zu lösen. Die tiefste Ursache aller Zwietracht in der Welt ist die Abkehr des Menschen von Gott. Wer mit Gott nicht in Frieden lebt, der kann nur schwerlich mit seinen Mitmenschen in Frieden leben.

Wie das Gebetstreffen in Assisi im vergangenen Jahr deutlich unterstrichen hat, kommt bei den vielfältigen Friedensbemühungen vor allem dem Gebet eine große Bedeutung zu. Unsere Hoffnung für die Zukunft der Menschheit gründet dort, wo Menschen im Gebet um den Frieden ringen. Hier verbindet sich unsere menschliche Ohnmacht mit der Allmacht Gottes. Hier kommt unserer menschlichen Erbärmlichkeit das Erbarmen Gottes zu Hilfe. Hier betet mit uns die Mutter des Herrn und bringt unser Gebet um Frieden vor ihren Sohn, der gekommen ist, wie die Schrift sagt, den Frieden zu verkünden den Fernen und den Nahen (Eph. 2, 17).

6. Als Maria den Erlöser der Welt in Betlehem gebar, da öffnete sich der Himmel. Die Botschaft der Engel verkündete einer im Dunkel liegenden Welt: ”Verherrlicht ist Gott in der Höhe, und aus Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade“ (Lk. 2, 14). Die Botschaft des Friedens ist eng mit der Sendung Marias und der Heilsbotschaft ihres göttlichen Kindes verbunden. Die großen Botschaften der Gottesmutter an die Welt - wie zum Beispiel an die Kinder von Fatima - sprechen immer wieder vom Frieden und von der Notwendigkeit der Bekehrung der Menschen und Völker in Jesus Christus.

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Marienwallfahrtsorte Zentren, in denen sich die Angehörigen der durch den Krieg verfeindeten Völker zuerst wieder getroffen haben: zum gemeinsamen Gebet und zur gegenseitigen Versöhnung. In Lourdes wurde damals von Bischof Théas die Pax-Christi-Bewegung gegründet. In Deutschland ist sie hier in Kevelaer ins Leben gerufen worden. Die Pax-Christi-Kapelle am Wallfahrtsplatz erinnert in eindrucksvoller Symbolik daran.

7. Darum rufe ich euch heute an diesem Gnadenort der Mutter des Herrn zu einem verstärkten Einsatz für den Frieden auf. Der Friede ist vor allem eine moralische Verpflichtung und gründet in den Friedensbereitschaft aller Beteiligten. Als Jünger Christi sind wir in einer besonderen Weise aufgerufen, Friedensstifter zu sein: Überwindung der Ungerechtigkeiten, Verzicht auf Gewaltanwendung, Bereitschaft zur Verständigung und auch zum gegenseitigen Verzeihen. Jeder kann dadurch zum Frieden unter den Menschen einen entscheidenden und ganz persönlichen Beitrag leisten. Tretet ein für die internationale Völkerverständigung, für eine schrittweise Beseitigung aller Massenvernichtungswaffen und gemeinsame Anstrengungen aller Völker für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt.

Prüft im konkreten Alltag, was euch als ”Fortschritt“ angeboten wird. Besondere Wachsamkeit ist geboten, wenn wir unsere Erde und das menschliche Leben auf ihr für die Zukunft wirksam verteidigen wollen. Es geht ja zum Beispiel beim Umweltproblem und beim Strahlenschutz längst nicht mehr nur um das Leben der heutigen Menschen, sondern auch um das der kommenden Generationen. Wir müssen aus den Grenzen und Gefahren des Wachstums die Konsequenzen ziehen. Wir dürfen nicht alles machen, was wir tatsächlich machen könnten. Askese, Selbstbeschränkung, Verzicht - diese alten Forderungen der Kirche werden plötzlich wieder sehr aktuell und modern; ja, weithin sogar lebensnotwendig, um das überleben der Menschheit auch morgen zu gewährleisten.

8. Wir tragen heute die Bitte um Frieden unter den Völkern und um eine gesicherte und menschenwürdige Zukunft vor Gott, der ein ”Gott des Friedens“ (Röm. 15, 33) ist. Dabei vertrauen wir auf die Fürsprache Marias. Sie wird uns helfen, vom Mißtrauen zum Verstehen zu finden, den Haß durch die Liebe zu überwinden. Sie wird uns helfen, Gleichgültigkeit in Solidarität zu verwandeln und Geist und Herz füreinander in weltweiter Brüderlichkeit zu öffnen.

Maria ist die Mutter aller Menschen, weil sie die Mutter des Sohnes Gottes ist. Gott ist ja Mensch und damit der Bruder aller Menschen geworden. Über alle Grenzen von Rassen, Nationen und Staaten hinweg reicht der schützende Mantel der Mutter des Herrn. Hier in Kevelaer wird das deutlich. Mit mir, dem Bischof von Rom, sind hier Gläubige aus den verschiedenen deutschen Ländern. Mit uns sind Gläubige aus den Niederlanden, aus Belgien und aus Luxemburg, aus Frankreich, aus Polen und aus zahlreichen anderen Nationen. Was vielen als Traum und Utopie erscheint, hier ist es wahr und wirklich: Grenzen fallen nieder. Menschen kommen zusammen. Fremdheit schwindet. Trennendes weicht. Weil der gemeinsame Glaube die Menschen eint. Weil gemeinsame Hoffnung uns trägt. Weil gemeinsame Liebe uns beseelt. Hier gibt es schon das einige Europa aus den vielen Völkern - das die Politiker mit so unzähligen Schwierigkeiten zu schaffen versuchen. Hier ist das Europa des Glaubens, das es bereits in vergangenen Jahrhunderten gegeben hat. Hier erhebt sich die Hoffnung, daß es ein solches auch künftig wieder geben kann. Liebe Brüder und Schwestern!

9. In der Apostelgeschichte wird berichtet, wie im Abendmahlssaal alle einmütig im Gebet verharrten ”zusammen mit den Frauen und mit Maria, der Mutter Jesu, und mit seinen Brüdern“ (Apg. 1, 14). In dieser Einmütigkeit sind wir heute zusammen mit Maria bei ihrem Gnadenbild in Kevelaer versammelt, um uns durch ihre Wort und Beispiel, durch ihr gesprochenes und gelebtes Fiat, den Weg zu Christus, unserem wahren Leben, zeigen zu lassen. Wir sind hier, um von ihr, der Königin des Friedens, den Frieden für die Welt zu erbitten. Laßt uns auch in Zukunft, in den Mühen und Pflichten unseres Alltags, in dieser einmütigen Gebetsgemeinschaft mit Maria verharren!

Möge der Internationale Marianische und Mariologische Kongreß, der im Herbst dieses Jahres unter dem Leitgedanken ”Maria, Mutter der Glaubenden“ hier in Kevelaer stattfinden wird, auch euch wertvolle Anregungen für eine weitere Vertiefung eurer Verehrung und Liebe zur Gottesmutter schenken. Ebenso soll das kommende Marianische Jahr uns helfen, uns zusammen mit der ganzen Kirche würdig auf die bevorstehende 2000-Jahrfeier der Geburt unseres Erlösers vorzubereiten, damit unter der Führung und dem Schutz Marias das Reich Gottes in der Welt immer mehr Wirklichkeit werde.

Maria mit dem Kinde lieb, uns allen deinen Segen gib! Amen.

 

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