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SCHREIBEN VON JOHANNES PAUL II. ZUM 
600. GEBURTSTAG DES HL. NIKOLAUS VON KUES

   

Meinem verehrten Bruder im Bischofsamt 
Leo Schwarz 
Diözesanadministrator von Trier 

1. Bevor sich unser Herr Jesus Christus zur Rechten des Vaters setzte, gebot er den Jüngern, seine Zeugen zu sein, und versprach ihnen dafür die Kraft des Heiligen Geistes (vgl. Apg 1,8). Seitdem durften die Jünger des Herrn durch die Jahrhunderte hindurch die Erfahrung machen, daß der Heilige Geist zu allen Zeiten den Reichtum seiner Gaben ausspendet (1 Kor 12,4 – 11). In diesen bunten Strauß vielfältiger Geschenke gehören auch die Gabe, Weisheit mitzuteilen, die Gabe, Erkenntnis zu vermitteln, die Gabe der Glaubenskraft und die Fähigkeit, die Geister zu unterscheiden. Unter die Söhne der Mutter Kirche, denen die genannten Gaben des Heiligen Geistes in besonders reichlichem Maß zuteil wurden, reiht man mit Recht Nicolaus Cusanus ein, dessen 600. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern. 

Anläßlich dieses würdigen Gedenkens werden in seinem Heimatort Kues, der in der Diözese liegt, die zu verwalten Dir aufgetragen ist, und auch an zahlreichen anderen Orten, die mit dem Mosellaner in Verbindung stehen, Gedenkfeiern veranstaltet. Um im Geiste an diesen Feierlichkeiten teilzunehmen, habe ich mich entschlossen, dieses Schreiben an Dich zu senden. Ich tue es gern, da Nicolaus Cusanus mit seiner Gedankenwelt trotz der zeitlichen Entfernung, die uns von ihm trennt, auch eine Botschaft bereithält für all jene, die nach dem Abschluß des Heiligen Jahres die Frage stellen, die am ersten Pfingstfest bereits an Petrus gerichtet wurde: »Was sollen wir tun?« (Apg 2,37). Das Leben des Nicolaus Cusanus kann uns dafür einige Anhaltspunkte geben. 

2. Wenn ich mich an diese große Persönlichkeit der Kirche erinnere, dann wandern meine Gedanken zur Titelkirche des Kardinals und Bischofs Nicolaus von Brixen, nach San Pietro in Vincoli, wo er auch bestattet wurde. Die Grabplatte verrät sein Geburtsjahr 1401. Nicolaus stammte aus einer einfachen, aber recht wohlhabenden bürgerlichen Familie namens Krebs zu Kues, gelegen an der Mosel zwischen Trier und Koblenz, wie eine auf ihn zurückgehende mitteleuropäische Karte eigens hervorhebt. In seiner Selbstbiographie bemerkt der zu großem Ansehen und hoher kirchlicher Würde gelangte Nicolaus Cusanus im Hinblick auf sein Herkommen: »Damit nun alle wissen, daß die Heilige Römische Kirche nicht auf Ort oder Art der Herkunft sieht, sondern eine äußerst großzügige Vergelterin der Tugenden ist, darum hat der Kardinal diese seine Geschichte zum Lobe Gottes niederschreiben lassen.«  

3. In der Tat führte der Bildungsgang den jungen Nicolaus aus Kues über die Stationen Heidelberg, Padua und Köln in eine einzigartige Laufbahn ein, wobei er sich von Anfang an für den geistlichen Stand entschieden hatte. Sein Herz war einzig von dem Wunsch beseelt, der Kirche zu dienen. Das Konzil von Basel bot dem 31jährigen erstmals eine Bühne für sein Auftreten, wenngleich er zunächst in den damals vorherrschenden Gedanken des Konziliarismus verhaftet blieb. Doch bald reifte in ihm die Überzeugung, daß ein Allgemeines Konzil der Autorität des Nachfolgers Petri bedarf, dem Jesus Christus das höchste Hirtenamt über seine Herde anvertraut hatte. Auf der Grundlage dieser Einsicht entfaltete er eine segensreiche Tätigkeit, die diplomatische Missionen ebenso wie Initiativen zur Erneuerung der Kirche einschloß. Er war Mitglied der kleinen Konstantinopel-Delegation, die die Gesandtschaft der Griechen – mit dem Kaiser an der Spitze – zum Unionskonzil nach Ferrara-Florenz holte. Er beschwor die deutschen Fürsten, ihre Neutralität aufzugeben und Eugen IV. als rechtmäßigen Papst anzuerkennen. 1448 mit der Kardinalswürde ausgestattet, sollte er daraufhin im Auftrag des Papstes die deutschen Lande durcheilen, um allen, die anläßlich des Heiligen Jahres 1450 am Pilgerzug nach Rom verhindert waren, die Gnade des Jubiläumsablasses in der Heimat zu verkünden. 

4. Diese Legationsreise nutzte er gleichzeitig, um notwendige Reformen in Kirchen und Klöstern durchzuführen. Er strebte eine religiöse Erneuerung in Deutschland an, die vor allem in der Übereinstimmung mit dem Nachfolger Petri bestehen sollte. Dabei gab er auch wertvolle Anstöße auf seelsorglichem Gebiet, wobei er sich besonders für die Verbreitung der Grundgebete sowie der elementaren Glaubens- und Sittenlehren einsetzte. Er wollte das Volk wieder beten lehren. So ordnete er für die einfachen Gläubigen die Anbringung von Wandtafeln an, auf denen das Vater-Unser, das Ave-Maria, das Glaubensbekenntnis und die Zehn Gebote eingeschrieben waren. 

Die Geistlichen und Ordensleute erinnerte er daran, ein Leben der Heiligkeit zu führen, wie es ihrer besonderen Berufung entspricht. Um seinen pastoralen und spirituellen Zielen Wirkkraft zu verleihen, berief er Diözesan- und Provinzialsynoden ein. Es gelang ihm, den hohen Anspruch, den er an andere stellte, durch einen in seiner Einfachheit vorbildlichen Lebensstil einzulösen. Keinem seiner Gegner, die ihn vielfach aus unterschiedlichen Gründen schmähten, gab er Anlaß, die Integrität seines Lebenswandels in Zweifel zu ziehen. Da sich seine hohen Ziele und großen Programme mit persönlicher Glaubwürdigkeit paarten, ist es Nicolaus Cusanus gelungen, das katholische Leben dort wieder aufzurichten, wo es daniederlag, und zu stärken, wo es erschlafft war. 

5. Wenn Nicolaus Cusanus von Reform sprach, dann meinte er damit keinen Umbruch im Sinne einer modernen Anpassung an die Zeit, sondern Treue zur kirchlichen Überlieferung. Für ihn stand unverrückbar fest: Wer dem Glauben eine Zukunft geben will, muß um dessen Herkunft wissen. So fühlte er sich in seinem Wirken für die Glaubensvermittlung dazu gedrängt, eine Rückbesinnung auf die Ursprünge anzumahnen und auf diesem festen Fundament das Haus der Kirche bauen zu helfen (vgl. Mt 16,18). Sollte er in seinem Streben nach Erneuerung der Kirche manchmal auch grundsätzlich und ungestüm geworden sein, so können seine Mißerfolge weder seine tatsächlich erzielten Ergebnisse noch seine überragende geistige Größe verdecken. Ein Pfarrer der Diözese Brixen, der als Zeitgenosse unter Cusanus’ Krummstab gewirkt hat, schrieb über seinen damaligen Bischof: »Das Bistum Brixen wurde bisher noch von keinem Oberhirten geleitet, der jenem, Cusanus, ähnlich gewesen ist oder gar gleichkommt, und das wird auch für alle Zukunft gelten.« Bei allem organisatorischen Talent, das Nicolaus Cusanus auszeichnete und seinem Tun die nötige Effizienz gab, verstand er sich selbst vor allem als Geistlicher und verzehrte sich in der Nachfolge des guten Hirten, der sein Leben hingab für seine Herde (vgl. Joh 10,11 – 18). 

Mit besonders großem Eifer widmete sich Nicolaus Cusanus dem Dienst der Verkündigung. Darin unterschied er sich von manchem Bischof seiner Zeit. Die vielen Predigten, die auf uns gekommen sind, zeigen einen Verkündiger, der den Schatz der Heiligen Schrift erschließt und das biblische Wort mit Hilfe von philosophisch-theologischen Überlegungen ausdeutet, um sie dann mit pädagogischer und pastoraltheologischer Klugheit den Menschen nahezubringen. 

6. Der Lebensweg des Kardinals und Bischofs Nikolaus von Brixen kannte aber auch Strecken, die von schweren Enttäuschungen und herben Bitterkeiten gepflastert waren. Keiner bestreitet, daß sein Eifer unermüdlich war: Er hatte mit den Böhmen über die Frage der Kommunion unter beiderlei Gestalten verhandelt; auf päpstliches Geheiß hin hatte er sich in dem mehr als hundertjährigen Erbfolgekrieg um die Wiederherstellung des Friedens zwischen England und Frankreich bemüht; er hatte sein Bistum als Seelenhirt vorbildlich geleitet, in seiner Eigenschaft als Landesfürst auch die Finanzen seines Gebietes saniert und 1459 noch einen Entwurf zur Reform der Gesamtkirche vorgelegt. 

Da wurde er in der Auseinandersetzung mit Herzog Sigismund von Tirol 1460 in seiner Sommerresidenz Bruneck belagert und gefangengesetzt. Nicolaus Cusanus mußte sein Bistum verlassen und sollte es nie wieder sehen. Er begab sich nach Rom zu seinem Freund Papst Pius II., der ihn schon ein Jahr zuvor zum Generalvikar für die weltlichen Angelegenheiten der Diözese Rom bestellt hatte. Hier fand der Kardinal nun auch die nötige Muße, um seine Alterswerke zu schreiben, vor allem seine große Vermächtnisschrift »Von der Jagd nach der Weisheit«. 

7. Obgleich auf den ersten Blick der vielfältige und umfassende äußere Einsatz, den Nicolaus Cusanus auf verschiedenen kirchlichen Gebieten geleistet hat, ins Auge sticht, würde man seiner Persönlichkeit nicht gerecht, wenn man das gewaltige wissenschaftliche Werk übersähe, das er hinterlassen hat. Seine Bibliothek, die fast gänzlich erhalten geblieben ist, legt dafür ein beredtes Zeugnis ab. In allen damals gepflegten Wissensbereichen hat der Kardinal durch seine genialen Ideen Anregungen für das Weiterdenken gegeben und Akzente gesetzt, die bis heute – mitunter lange unerkannt – wirksam sind oder es verdienen, wieder aufgegriffen zu werden: in der Astronomie nicht weniger als in der Mathematik, ebenso in den Naturwissenschaften und auf medizinischem Gebiet, in der Geographie und Rechtsgeschichte, vor allem aber in Philosophie und Theologie. 

Gott, der sich in Jesus Christus voll geoffenbart hat, war von Anfang an eine Art Achse seines Denkens, so daß sich für sein philosophisch-theologisches Mühen zwei elliptische Brennpunkte ergaben: der eine dreifaltige Gott sowie Jesus Christus, der menschgewordene Gott. Diese Botschaft wollte er in Wort und Schrift auch Nicht-Christen, wie etwa Muslimen und Juden, verständlich machen. Er suchte nach dem Gemeinsamen in den vielen Religionen, ohne die Verschiedenheiten zu unterschlagen, und wurde nicht müde, die Einzigkeit und Universalität Jesu Christi und seiner Kirche im Hinblick auf die Vermittlung des Heils ins Licht zu heben. 

8. Seinem kirchlichen, geistlichen und auch geistigen Schaffen setzte er die Krone auf, indem er in seinem Heimatdorf ein Armen-Hospital stiftete und dafür sein eigenes Vermögen einbrachte. Im Geiste jener Frömmigkeit, die man die »Devotio moderna« nannte, sollten in diesem Hospital arme, abgearbeitete Greise ihre letzte Bleibe finden, dreiunddreißig an der Zahl, entsprechend der angenommenen Anzahl der Lebensjahre Jesu Christi. Die Stiftungsurkunde vom 3. Dezember 1458 belegt erneut, wie sehr sich Nicolaus Cusanus vom Geist der Bibel inspirieren ließ. Den Antrieb für dieses hochherzige Werk sozialer Verantwortung gaben ihm nämlich die Worte Jesu, die im Hinblick auf das Weltgericht gesprochen sind: »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan« (Mt 25,40). So hat der Kardinal seine Verkündigung glänzend beglaubigt, indem er sie als Caritas vorbildlich gelebt hat. 

Als Nicolaus Cusanus am 11. August 1464 in Todi gestorben war, wurde sein Leichnam nach Rom überführt und in seiner Titelkirche beigesetzt. Auf seiner Grabplatte lesen wir die Worte: »Er liebte Gott, fürchtete und verehrte ihn; ihm allein diente er. Nicht getrogen hat ihn die Verheißung des Lohnes.« Dieser Inschrift wurde sein ausdrücklicher Wunsch beigefügt, bei »den Ketten des hl. Petrus« begraben zu sein. Einen weiteren persönlichen Wunsch erfüllte man ihm: Sein Herz wurde nicht in Rom beigesetzt, sondern in der Kirche des von ihm gestifteten Hospitals – inmitten der Menschen, die ihm besonders am Herzen lagen. 

9. Das geistige Vermächtnis, das Nicolaus Cusanus uns hinterläßt, ist eine Verpflichtung für die Kirche, die sich auf den Weg gemacht hat ins dritte Jahrtausend. Es fordert die Christen auf, in der Liebe zu Gott nicht nachzulassen, am überlieferten Glauben der Kirche unverkürzt festzuhalten und diesen Anspruch durch ein überzeugendes und glaubwürdiges Leben einzulösen. Diesen hohen Zielen in Gemeinschaft mit dem Nachfolger Petri näher zu kommen war ihm ein vorzügliches Anliegen. Denn die Lebensbotschaft des Kardinals läßt deutlich erkennen, daß er sich in seinem Wirken stets in den Dienst des Bischofs von Rom gestellt sah. 

Bereichert und verpflichtet durch das Testament, das Nicolaus, der große Sohn aus Kues, der Nachwelt bis in unsere Tage hinterlassen hat, sende ich Dir, lieber Mitbruder, den Bischöfen, Priestern und Diakonen, den Ordensleuten und allen, die zum Gedenken an diese überragende Gestalt des 15. Jahrhunderts nach Bernkastel-Kues gekommen sind, herzliche Grüße aus der Ewigen Stadt. Indem ich den Verantwortlichen in Kirche und Gesellschaft die Kraft des Geistes und die Weisheit des Herzens erbitte, die Nicolaus Cusanus ausgezeichnet haben, erteile ich gern den Apostolischen Segen. 

Aus dem Vatikan, am 15. Mai 2001

  



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