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BOTSCHAFT ZUM 
LXXXVIII. WELTTAG DER 
MIGRANTEN UND FLÜCHTLINGE (2002)
 

Migration und interreligiöser Dialog

 

1. Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat sich die Menschheit immer mehr zu einem großen Dorf entwickelt, in dem sich die Entfernungen verkürzt haben und das Kommunikationsnetz verdichtet hat. Die fortschreitende Entwicklung der modernen Transportmittel erleichtert die Beförderung von Personen von einem Land ins andere, von einem Kontinent zum anderen. Infolge dieses einschneidenden sozialen Phänomens zählt man insgesamt rund 50 Millionen Einwanderer, verteilt auf alle Teile der Welt. Das ist eine Zahl, die die Gesellschaft und die christliche Gemeinschaft zum Nachdenken zwingt, um zu Beginn des neuen Jahrtausends diesen Herausforderungen in angemessener Weise begegnen zu können, denn sie stellen sich uns in einer Welt, in der Menschen verschiedener Kulturen und Religionen miteinander leben müssen. 

Damit sich dieses Zusammenleben friedlich gestaltet, müssen notwendigerweise zwischen den Anhängern der verschiedenen Religionen die leider noch vorhandenen Schranken des Mißtrauens, der Vorurteile und Ängste beseitigt werden. In allen Ländern sind Dialog und gegenseitige Toleranz erforderlich zwischen den Anhängern der Mehrheits-Religion und den Minderheiten, die von Einwanderern gebildet werden, die anderen Religionen angehören. Der beste Weg ist der Dialog, und die Kirche lädt ein, auf diesem Weg fortzuschreiten, um vom Mißtrauen zur Achtung, von der Ablehnung zur Annahme zu gelangen. 

Vor kurzem, am Ende des Großen Jubiläumsjahres 2000, habe ich diesbezüglich meinen Aufruf wiederholen wollen, damit sich »eine Beziehung der Öffnung und des Dialogs mit den Vertretern der anderen Religionen« abzeichne (Novo millennio ineunte, 55). Um dieses Ziel zu erreichen, sind Initiativen, die die Aufmerksamkeit der großen sozialen Kommunikationsmittel wecken, nicht genug. Es bedarf vielmehr täglicher Zeichen und Gesten, die einfach und beharrlich gesetzt werden und imstande sind, in den zwischenmenschlichen Beziehungen eine echte Wandlung zu bewirken. 

2. Die für unser Zeitalter bezeichnende ausgedehnte und dichte Vernetzung der Migrationsphänomene vervielfacht die Gelegenheit zum interreligiösen Dialog. Sowohl Länder mit alten christlichen Wurzeln als auch multikulturelle Gesellschaften bieten konkrete Gelegenheiten zum interreligiösen Austausch. Nach Europa, das eine lange christliche Tradition hat, kommen Bürger, die anderen Bekenntnissen angehören. Nordamerika, das bereits eine gefestigte multikulturelle Erfahrung vorweisen kann, beherbergt Anhänger neuer religiöser Bewegungen. In Indien, wo der Hinduismus überwiegt, wirken katholische Ordensleute, indem sie den einfachen karitativen Dienst an den Armen des Landes leisten. 

Der Dialog ist nicht immer leicht. Aber die geduldige, vertrauensvolle Suche nach ihm ist für die Christen eine ständig zu erfüllende Pflicht. Im Vertrauen auf den Herrn, der Sinn und Herz erleuchtet, bleiben sie offen und aufnahmebereit gegenüber all jenen, die sich zu anderen Religionen bekennen. Mit tiefer innerer Überzeugung praktizieren sie den eigenen Glauben, während sie zugleich mit allen, die nicht Christen sind, den Dialog suchen. Aber sie wissen auch, daß für einen wahren Dialog mit den anderen das klare Bekenntnis des eigenen Glaubens erforderlich ist. 

Dieses aufrichtige Bemühen um den Dialog setzt einerseits die gegenseitige Annahme der Unterschiede und manchmal sogar der Widersprüche wie auch die Respektierung der freien Gewissensentscheidungen des einzelnen voraus. Es ist also unbedingt notwendig, daß jeder, welcher Religionszugehörigkeit er auch sei, die unabdingbaren Ansprüche der Religions-und Gewissensfreiheit berücksichtigt, die das II. Vatikanische Konzil klar ins Licht gerückt hat (vgl. Dignitatis humanae, 2). 

Ich hoffe, daß ein solch friedliches Zusammenleben auch in den Ländern möglich ist, wo sich die Mehrheit zu einer nichtchristlichen Religion bekennt und wo christliche Einwanderer leben, die nicht immer volle Religions-und Gewissensfreiheit genießen. 

Wenn alle von diesem Geist beseelt sind, werden sich im Rahmen der menschlichen Mobilität gleichsam wie in einer Werkstatt providentielle Möglichkeiten für einen fruchtbaren Dialog erschließen, bei dem niemals die zentrale Stellung des Menschen streitig gemacht wird. Das ist der einzige Weg, der uns hoffen läßt, »das düstere Gespenst der Religionskriege zu vertreiben, die viele Epochen der Menschheitsgeschichte mit Blut überzogen« und viele Personen nicht selten gezwungen haben, ihre Heimat zu verlassen. Es ist dringend notwendig, sich dafür einzusetzen, daß der Name des einen Gottes immer mehr zu dem wird, was er ist, »ein Name des Friedens und ein Gebot des Friedens« (vgl. Novo millennio ineunte, 55). 

3. »Migrationen und interreligiöser Dialog« lautet das Thema, das für den Welttag der Migranten und Flüchtlinge 2002 gewählt wurde. Ich bitte den Herrn, daß dieser jährliche Gedenktag allen Christen die Gelegenheit gibt, diese höchst aktuellen Aspekte der Neuevangelisierung zu vertiefen und alle verfügbaren Mittel zu nutzen, um in den Pfarrgemeinden entsprechende apostolische und pastorale Initiativen zu entwickeln. 

Die Pfarrei ist der Raum, in dem sich eine wahre Pädagogik der Begegnung zwischen Personen verschiedener religiöser Überzeugungen und unterschiedlicher Kulturen verwirklichen kann. Die Pfarrgemeinde in ihren verschiedenen Aufgabenbereichen kann zum Übungsort der Gastfreundschaft werden, wo ein Austausch von Erfahrungen und Gaben gepflegt wird. Das begünstigt in jedem Fall ein friedvolles Zusammenleben und schaltet die Gefahr von Spannungen mit Einwanderern aus, die anderen religiösen Bekenntnissen angehören. 

Wenn trotz aller Verschiedenheiten der gemeinsame Wille zum Dialog besteht, läßt sich eine Grundlage für den fruchtbringenden Austausch finden und eine gegenseitige nutzbringende Freundschaft entwickeln, die sich auch in eine wirksame Zusammenarbeit mit gemeinsamen Zielsetzungen im Sinne des Gemeinwohls verwandelt. Es ist vor allem eine günstige Gelegenheit für die Großstädte, wo die Zahl der Einwanderer, die unterschiedlichen Kulturen und Religionen angehören, besonders hoch ist. In dieser Hinsicht könnte von echten »Werkstätten« des zivilen Zusammenlebens und des konstruktiven Dialogs gesprochen werden. Der Christ läßt sich von der Liebe zu seinem göttlichen Lehrer leiten, der durch den Tod am Kreuz alle Menschen erlöst hat, und er begegnet zugleich allen mit offenen Armen und Herzen. Es ist die Kultur des Respekts und der Solidarität, die seine Gesinnung prägen soll, besonders wenn er sich in einem multikulturellen und multireligiösen Umfeld befindet. 

4. In vielen Teilen der Welt wenden sich täglich Migranten, Flüchtlinge und Vertriebene an katholische Pfarreien und Vereinigungen und suchen Hilfe. Dabei werden sie ohne Rücksicht auf ihre kulturelle und religiöse Zugehörigkeit aufgenommen. Der Liebesdienst, zu dessen Erfüllung die Christen immer berufen sind, darf sich nicht auf die reine Verteilung von humanitären Hilfsleistungen beschänken. Denn es ergeben sich neue pastorale Situationen, die die kirchliche Gemeinschaft berücksichtigen muß. Ihren Mitgliedern obliegt es, eine passende Gelegenheit zu finden, bei der sie mit all jenen, denen sie Aufnahme gewähren, das Geschenk der Offenbarung Gottes teilen, der die Liebe ist und »die Welt so sehr geliebt hat, daß er seinen eingeborenen Sohn hingegeben hat« (Joh 3, 6). Mit dem materiellen Brot darf notwendigerweise das Angebot des Geschenkes des Glaubens nicht vernachlässigt werden, besonders durch das eigene Lebenszeugnis und durch eine Haltung tiefen Respekts vor allen Menschen. Die Aufnahme und gegenseitige Offenheit füreinander ermöglichen es, einander besser kennenzulernen und zu entdecken, daß die verschiedenen religiösen Traditionen nicht selten wertvolle Samen der Wahrheit enthalten. Der daraus entstehende Dialog kann jeden Menschen mit einem wachen Sinn für die Wahrheit und das Gute erfüllen. 

Auf diese Weise könnte – wenn der interreligiöse Dialog eine der größten Herausforderungen unserer Zeit ist – das Phänomen der Migration seine Entfaltung begünstigen. Dieser Dialog kann natürlich »nicht auf den religiösen Indifferentismus gegründet sein«, wie ich im Apostolischen Schreiben Novo millennio ineunte (Nr. 56) betont habe. Deshalb »haben wir Christen die Pflicht, ihn so zu entwickeln, daß wir das volle Zeugnis der Hoffnung, die uns erfüllt, vortragen« (ebd. ). Der Dialog darf das Geschenk des Glaubens nicht verbergen, sondern muß es neu in den Vordergrund rücken. Wie könnten wir denn einen solchen Reichtum für uns allein behalten? Warum sollen wir den größten Schatz, den wir besitzen, den Migranten und Ausländern, die anderen Religionen angehören und die die Vorsehung uns begegnen läßt, vorenthalten und – wenn auch mit großer Rücksicht auf die Sensibilität des anderen – nicht anbieten? 

Um diese Sendung zu erfüllen, muß man sich vom Heiligen Geist führen lassen. Am Pfingsttag vollendete der Geist der Wahrheit den göttlichen Plan über die Einheit des Menschengeschlechtes in der Vielfalt der Kulturen und Religionen. Als die vielen in Jerusalem versammelten Pilger die Apostel reden hörten, riefen sie aus: »Wir hören sie in unseren Sprachen Gottes große Taten verkünden« (Apg 2, ). Von jenem Tag an folgt die Kirche ihrer Sendung und verkündet die »großen Taten«, die Gott unter den Menschen aller Rassen, Völker und Nationen unaufhörlich vollbringt. 

5. Ich vertraue Maria, der Mutter Jesu und der ganzen Menschheit, die Freuden und Mühen all jener an, die den Weg des Dialogs zwischen verschiedenen Kulturen und Religionen gehen, damit sie die von dem ausgedehnten Phänomen der Migration betroffenen Personen unter ihren liebevollen Schutzmantel nehme. Maria, das »Schweigen «, in dem das »Wort« Mensch geworden ist, die demütige »Magd des Herrn«, die die Schwierigkeiten der Migration und die Prüfungen der Einsamkeit und Verlassenheit erfahren hat, lehre uns, für das Wort Zeugnis zu geben, das unter uns und für uns Leben geworden ist. Maria mache uns fähig für den freien und geschwisterlichen Dialog mit allen Migranten, die unsere Brüder und Schwestern sind, auch wenn sie anderen Religionen angehören. 

Ich begleite diesen Wunsch mit der Zusicherung meines steten Gebetsgedenkens und segne alle von Herzen. 

Aus Castel Gandolfo, am 25. Juli 2001

 



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