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BOTSCHAFT VON JOHANNES PAUL II. 
ZUM 86. WELTTAG DER MIGRANTEN 

 


Befreiung und Beginn einer neuen Zeit der Brüderlichkeit und Solidarität

Liebe Brüder und Schwestern!

1. An der Schwelle des neuen Jahrtausends ist die Menschheit von Phänomenen intensiver Mobililtät gekennzeichnet, während sich im Denken und Empfinden immer mehr das Bewußtsein durchsetzt, zu einer einzigen Familie zu gehören. Freiwillige oder erzwungene Wanderungsbewegungen vervielfachen die Gelegenheiten zum Austausch zwischen Menschen verschiedener Kulturen, Religionen, Rassen und Völker. Die modernen Transportmittel verbinden immer schneller einen Ort der Welt mit dem andern, und jeden Tag werden die Grenzen von Tausenden von Migranten, Flüchtlingen, Nomaden und Touristen überschritten.

Die vielschichtige Wirklichkeit der menschlichen Wanderungen hat sehr verschiedene unmittelbare Ursachen. Zutiefst jedoch offenbart sie keimhaft die Sehnsucht nach einem transzendenten Horizont von Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden. Letztlich bezeugt sie eine Unruhe, die, wenn auch indirekt, auf Gott verweist, in dem allein der Mensch die vollständige Erfüllung aller seiner Erwartungen finden kann.

Die Anstrengung, die manche Länder aufbringen, um die Einwanderer aufzunehmen, ist beachtlich. Viele der eingewanderten Menschen fügen sich, sobald die mit der Anpassungsphase verbundenen Schwierigkeiten überwunden sind, gut in die Gemeinschaft des Aufnahmelandes ein. Das Unverständnis jedoch, das den Fremden gegenüber manchmal festzustellen ist, zeigt, daß eine Umgestaltung der Strukturen und eine Änderung der Mentalität dringend notwendig sind, wozu das Große Jubiläum des Jahres 2000 die Christen und jeden Menschen guten Willens aufruft.

Das Jubiläum – Zeit der Pilgerschaft und der Begegnung

2. Die Kirche feiert mit dem Großen Jubiläum die Geburt Christi. Um diese Gnadenzeit wirklich tief zu erleben, begeben sich zahlreiche Gläubige auf Pilgerfahrt zu den Wallfahrtsstätten des Heiligen Landes, Roms und der ganzen Welt. Sie lernen dabei, ihr Herz für alle zu öffnen, besonders für den, der anders ist: der Gastgeber und der Gast, der Fremde, der Eingewanderte, der Flüchtling, derjenige, der sich zu einer anderen Religion, und derjenige, der sich zu keinem Glauben bekennt. 

Die Wallfahrt war, auch wenn sie zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche kulturelle Ausdrucksformen gefunden hat, doch stets ein kennzeichnendes Moment im Leben der Gläubigen, denn »sie erinnert an den persönlichen Weg des Glaubenden auf den Spuren des Erlösers: eine Übung tätiger Askese, der Reue über die menschlichen Schwächen, beständiger Wachsamkeit und der inneren Vorbereitung auf die Erneuerung des Herzens« (Incarnationis mysterium, 7).

Für viele Pilger verbindet sich diese Erfahrung des inneren Weges mit dem Reichtum zahlreicher Begegnungen mit anderen Gläubigen verschiedener Herkunft, Kultur und Geschichte. Die Pilgerfahrt wird dann zu einer bevorzugten Gelegenheit der Begegnung mit dem anderen Menschen. Wer zunächst einmal die Kraft aufgebracht hat, sein Land, seine Heimat und sein Vaterhaus zu verlassen, wie Abraham (vgl. Gen 12,1), wird allein schon dadurch mehr bereit, sich für den zu öffnen, der anders ist.

Ein ähnlicher Vorgang vollzieht sich bei den Migrationen: sie zwingen zum »Herausgehen aus sich selbst« und können so zu einem Weg zum anderen, zu einem anderen sozialen Umfeld hin werden, um sich durch Schaffen der notwendigen Bedingungen für ein friedliches Zusammenleben darin einzufügen.

Die Kirche – »Sakrament der Einheit«

3. Die Frohe Botschaft ist die Verkündigung der unendlichen Liebe des Vaters, offenbar geworden in Jesus Christus, der in die Welt kam, »um die versprengten Kinder Gottes wieder zu sammeln« (Joh 11,52) und sie in der einzigen Familie zu verbinden, in der Gott seine Wohnung unter den Menschen genommen hat (vgl. Offb 21,3). Darum hat Papst Paul VI. von der Kirche gesagt: »Niemand ist ihrem Herzen fremd. Niemand ist ihr gleichgültig wegen seines Amtes. Niemand ist ihr feindlich gesinnt, der es nicht selbst sein will. Nicht umsonst nennt man sie katholisch, nicht vergebens ist sie beauftragt, in der Welt Einheit, Liebe und Frieden zu fördern« (Ecclesiam suam, 94).

Als Echo auf diese Worte bekräftigte das II. Vatikanische Konzil: »So ist denn dieses messianische Volk, obwohl es tatsächlich nicht alle Menschen umfaßt und gar oft als kleine Herde erscheint, für das ganze Menschengeschlecht die unzerstörbare Keimzelle der Einheit, der Hoffnung und des Heils« (Lumen gentium,9). Die Kirche ist sich dieser ihrer Sendung bewußt. Sie weiß, daß Christus sie als Zeichen der Einheit im Herzen der Welt gewollt hat. Unter diesem Gesichtswinkel betrachtet sie auch das Phänomen »Migration«, das sich heute im Kontext der Globalisierung mit ihren zahlreichen positiven und negativen Aspekten stellt (vgl. Ecclesia in America, 20–22).

Einerseits beschleunigt die Globalisierung den Fluß des Kapitals und den Waren- und Dienstaustausch zwischen den Menschen und beeinflußt damit auch unvermeidlich die menschlichen Verschiebungen. Jedes große Vorkommnis an einem bestimmten Punkt der Erde neigt zu Auswirkungen auf die ganze Welt, und das Gefühl einer Gemeinsamkeit des Geschicks nimmt unter allen Völkern zu. Die neuen Generationen kommen immer mehr zu der Überzeugung, daß der Planet bereits ein »globales Dorf« ist, und sie knüpfen Freundschaftsbeziehungen an, die über sprachliche und kulturelle Verschiedenheiten hinweggehen. Miteinander leben wird für viele eine tägliche Realität.

Gleichzeitig aber führt die Globalisierung zu neuen Brüchen. Im Rahmen eines nicht gebührend gezügelten Liberalismus vertieft sich in der Welt der Unterschied zwischen »aufsteigenden« und »zurückbleibenden« Ländern. Die ersteren verfügen über Kapital und Technologien, die es ihnen gestatten, von den Ressourcen der Erde nach Belieben zu genießen, eine Gabe, von der sie nicht immer im Geist der Solidarität und des Miteinander-Teilens Gebrauch machen. Die zweiten hingegen haben nicht leicht Zugang zu den für eine angemessene menschliche Entwicklung notwendigen Ressourcen, vielmehr fehlt es ihnen manchmal sogar an den zum Lebensunterhalt notwendigen Mitteln. Von Schulden erdrückt und von inneren Zwistigkeiten zerrissen, vergeuden sie schließlich noch das geringe Kapital im Krieg (vgl. Centesimus annus, 33). Wie ich in der Botschaft zum Weltfriedenstag 1998 in Erinnerung gebracht habe, besteht die Herausforderung unserer Zeit darin, eine Globalisierung in Solidarität, eine Globalisierung ohne Ausgrenzung zu sichern (vgl. Nr. 3).

Auswanderungen aus Verzweiflung

4. In vielen Regionen der Welt lebt man heute in Situationen dramatischer Unbeständigkeit und Unsicherheit. Es ist nicht verwunderlich, daß in solcher Lage bei den Armen und den Verlassenen der Plan aufkommt, zu flüchten und ein anderes Land aufzusuchen, das ihnen Brot, Würde und Frieden bieten kann. Das ist die Auswanderung der Verzweifelten: Männer und Frauen, oft Jugendliche, denen keine andere Wahl bleibt, als ihr eigenes Land zu verlassen, um dem Abenteuer des Unbekannten entgegenzugehen. Jeden Tag nehmen Tausende von Menschen, auch unter dramatischen Umständen, das Wagnis des Fluchtversuchs in ein Leben ohne Zukunft auf sich. Leider ist die Wirklichkeit, die sie in den Aufnahmeländern vorfinden, oft eine Quelle für weitere Enttäuschungen.

Zu gleicher Zeit zeigen die über relativ reichliche Mittel verfügenden Staaten die Tendenz, die Grenzen fester zu schließen, gedrängt durch eine öffentliche Meinung, die sich mit den infolge der Einwanderungen entstehenden Schwierigkeiten nicht abfinden kann. Die Gesellschaft sieht sich der Notwendigkeit gegenüber, mit den »clandestini«, den illegal Eingewanderten, zurechtzu kommen, mit Männern und Frauen in rechtswidriger Lage, ohne Rechte in einem Land,
das sich weigert, sie aufzunehmen, Opfer organisierter Kriminalität oder skrupelloser Unter-nehmer.

An der Schwelle des Großen Jubiläums des Jahres 2000, da die Kirche sich ihre Sendung zum Dienst der Menschheitsfamilie erneut bewußt macht, erlegt diese Situation auch ihr ernste Fragen auf. Der Prozeß der Globalisierung kann ein passender Anlaß sein, wenn die kulturellen Verschiedenheiten als Gelegenheit zur Begegnung und zum Dialog angenommen werden und wenn die ungleiche Verteilung der in der Welt vorhandenen Ressourcen ein neues Bewußtsein der notwendigen Solidarität hervorruft, die die Menschheitsfamilie einen muß. Wenn aber, im Gegenteil, die Ungleichheiten sich verschärfen, werden die armen Bevölkerungsgruppen aus Verzweiflung zum Exil gezwungen, während die reichen Länder in der unersättlichen Sucht gefangen sind, die verfügbaren Ressourcen in den eigenen Händen zu konzentrieren. 

»Den Blick fest auf das Geheimnis der Menschwerdung gerichtet«

5. Der Tragödien, aber auch der günstigen Möglichkeiten bewußt, die das Phänomen der Migration mit sich bringt, und »den Blick fest auf das Geheimnis der Menschwerdung des Gottessohnes gerichtet, schickt sich die Kiche an, die Schwelle des dritten Jahrtausends zu überschreiten« (Incarnationis mysterium, 1). Im Ereignis der Menschwerdung erkennt die Kirche die Initiative Gottes. »Er hat uns das Geheimnis seines Willens kundgetan, wie er es gnädig im voraus bestimmt hat: Er hat beschlossen, die Fülle der Zeiten heraufzuführen, in Christus alles zu vereinen, was im Himmel und auf Erden ist« (Eph 1,9–10). Die Christen schöpfen die Kraft für ihren Einsatz aus der Liebe Christi, die die Frohe Botschaft für alle Menschen ist.

Im Licht dieser Offenbarung wirkt die Kirche, Mutter und Lehrerin, dahin, daß jedem Menschen die ihm gebührende Würde zukommt, der Einwanderer als Bruder aufgenommen wird und die ganze Menschheit eine geeinte Familie bildet, die mit Verständnis die verschiedenen Kulturen auszuwerten versteht, aus denen sie sich zusammensetzt. 

In Jesus ist Gott gekommen, um von den Menschen gastliche Aufnahme zu erbitten. Darum stellt er die Bereitschaft, den andern in Liebe aufzunehmen, als charakteristische Tugend des Gläubigen dar. Er wollte in einer Familie geboren werden, die in Betlehem keine Unterkunft fand (vgl. Lk 2,7), und hat das Exil in Ägypten erlebt (vgl. Mt 8,20). 

Jesus, der »keinen Ort hatte, wo er sein Haupt hinlegen konnte« (vgl. Mt 8,20), hat bei denen, die er traf, um Gastfreundschaft gebeten. Zu Zachäus sagte er: »Ich muß heute in deinem Haus zu Gast sein« (Lk 19,5). Er ging so weit, daß er sich einem Fremden gleichstellte, der einen Unterschlupf braucht: »Ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen« (Mt 25, 35). Als er seine Jünger aussendet, macht er aus der Gastfreundschaft, die ihnen zugute kommen wird, eine Geste, die ihn selbst betrifft: »Wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf, und wer mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat« (Mt 10,40).

In diesem Jubiläumsjahr und vor dem Hintergrund einer Mobilität von Menschen, die überall zugenommen hat, wird die Aufforderung zu gastlicher Aufnahme aktuell und dringend. Wie können die Christen behaupten, sie nähmen Christus auf, wenn sie dem Fremden die Tür verschließen, der bei ihnen vorstellig wird? »Wenn jemand Vermögen hat und sein Herz vor dem Bruder verschließt, den er in Not sieht, wie kann die Gottesliebe in ihm bleiben?« (1 Joh 3,17).

Der Sohn Gottes ist Mensch geworden, um alle zu erreichen, mit Vorzug den Geringsten, den Ausgeschlossenen, den Fremden. Als er seine Sendung in Nazaret beginnt, stellt er sich als Messias vor, der den Armen die Gute Nachricht, den Gefangenen die Entlassung verkündet und den Blinden das Augenlicht wiedergibt. Er kommt, um »ein Gnadenjahr des Herrn« auszurufen (vgl. Lk 4,18), das heißt Befreiung und Beginn einer neuen Zeit der Brüderlichkeit und Solidarität.

»Jubeljahr, das heißt ›ein Gnadenjahr des Herrn‹, ist das Kennzeichen des Tuns Jesu und nicht nur die chronologische Definition einer bestimmten Wiederkehr« (Tertio millennio adveniente, 11). 

Dieses immer in seiner Kirche gegenwärtige Wirken Christi ist darauf ausgerichtet, daß diejenigen, die sich fremd fühlen, in eine neue brüderliche Gemeinschaft eingehen. Und die Jünger sind berufen, Diener dieser Barmherzigkeit zu sein, damit niemand sich verliert vgl. Joh 6,39).

Das Jubiläumsjahr feiern zur Förderung der Einheit der Menschheitsfamilie

6. Wenn die Kirche das Große Jubiläum des Jahres 2000 feiert, will sie nicht die Tragödien vergessen, die das zu Ende gehende Jahrhundert gekennzeichnet haben: die blutigen Kriege, die die Welt verwüstet haben, die Deportationen, die Vernichtungslager, die »ethnischen Säuberungen«, den Haß, der zerrissen hat und der noch immer die menschliche Geschichte verfinstert.

Die Kirche hört den Schrei des Leidens derer, die aus ihrem eigenen Boden entwurzelt wurden, der gewaltsam getrennten Familien, derer, die bei dem heutigen schnellen Ortswechsel nirgends einen ständigen Aufenthaltsort finden. Sie nimmt die Angst derer wahr, die, rechtlos und aller Sicherheit beraubt, jeder Art Ausbeutung ausgesetzt sind, und sie trägt ihr Unglück mit ihnen.

Daß weltweit überall in der Gesellschaft die Gestalt des Verbannten, des Flüchtlings, des Exportierten, des illegal Eingereisten, des Migranten und das »Volk der Straße« auftaucht, gibt der Feier des Jubiläums eine sehr konkrete Bedeutung. Für die Gläubigen wird das zum Aufruf, die Mentalität und das Leben zu ändern nach dem Appell Christi: »Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!« (Mk 1,15).

In diese Umkehr ist – was ihre höchste und anspruchsvollste Motivation angeht – sicher die wirksame Anerkennung der Rechte der Migranten eingeschlossen: »Ihnen gegenüber muß unbedingt eine enge, nationalistische Haltung überwunden werden, um ihnen einen Status zu gewähren, der das Recht auf Auswanderung anerkennt…ihre Unterbringung sichert…Es ist die Pflicht aller – insbesondere der Christen – entschlossen für die allgemeine Brüderlichkeit zu arbeiten, die die unaufgebbare Grundlage echter Gerechtigkeit und Bedingung eines dauerhaften Friedens ist« (Paul VI., Octogesima adveniens, 17).

Für die Einheit der Menschheitsfamilie arbeiten heißt, sich dafür einzusetzen, daß jede Diskriminierung, die sich gegen Rasse, Kultur oder Religion eines Menschen richtet, als dem Plan Gottes entgegenstehend zurückgewiesen wird. Es heißt, Zeugnis zu geben für ein geschwisterliches Leben auf der Grundlage des Evangeliums, die kulturellen Verschiedenheiten achtend und offen für den aufrichtigen, vertrauensvollen Dialog. 

Es setzt voraus, das Recht eines jeden zu fördern, damit er in seinem eigenen Land in Frieden leben kann, und ferner: wach und aufmerksam zu sein, daß in jedem Staat die Gesetzgebung bezüglich der Einwanderung ihre Basis hat in der Anerkennung der grundlegenden Rechte der menschlichen Person.

Die Jungfrau Maria, die sich auf den Weg machte, um eilends zu ihrer Kusine Elisabet zu gelangen, und die bei der empfangenen Gastfreundschaft vor Freude in Gott, ihrem Heiland, aufjubelte (vgl. Lk 1, 39–47), möge alle unterstützen, die sich in diesem Jubiläumsjahr mit offenem Herzen auf den Weg zu den andern machen. Sie möge ihnen helfen, in ihnen Brüdern und Schwestern zu begegnen, Kindern des gleichen Vaters (vgl. Mt 23,9). Allen erteile ich von Herzen den Apostolischen Segen.

Aus dem Vatikan, 21. November 1999

Papst Johannes Paul II.

 (Orig. ital. in O.R. 6./7.12.99)

 



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