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BOTSCHAFT VON JOHANNES PAUL II.
 ZUR FEIER DES
WELTFRIEDENSTAGES


1. JANUAR 2000

"FRIEDE AUF ERDEN DEN MENSCHEN, DIE GOTT LIEBT!"

1. Diese Verkündigung der Engel, die vor 2000 Jahren die Geburt Jesu Christi begleitete (vgl. Lk 2,14), wird zu unserer Freude in der heiligen Weihnachtsnacht, in der das Große Jubiläum feierlich eröffnet wird, wieder erschallen.

 Die hoffnungsfrohe Botschaft, die uns aus der Grotte von Betlehem erreicht, wollen wir wieder an den Anfang des neuen Jahrtausends stellen: Gott liebt alle Männer und Frauen auf Erden und schenkt ihnen die Hoffnung auf eine neue Zeit, eine Zeit des Friedens. Seine Liebe, die in dem Mensch gewordenen Sohn, in Fülle offenbar wurde, ist das Fundament des universalen Friedens. Wenn sie im tiefsten Herzensgrund angenommen wird, versöhnt sie jeden mit Gott und mit sich selbst. Sie macht die Beziehungen der Menschen untereinander neu und weckt jenes Verlangen nach einer Haltung, die Brüdern und Schwestern eigen ist und die Versuchung der Gewalt und des Krieges zu vertreiben vermag.

 Das Große Jubiläum ist unlösbar mit dieser Botschaft der Liebe und Versöhnung verbunden, welche die eigentlichen Sehnsüchte der Menschheit unserer Zeit am glaubwürdigsten zum Ausdruck bringt.

2. Im Ausblick auf ein so bedeutungsträchtiges Jahr wünsche ich erneut allen von Herzen Frieden. Allen sage ich, daß der Friede möglich ist. Er muß als ein Geschenk Gottes erfleht, aber auch mit seiner Hilfe Tag für Tag durch Werke der Gerechtigkeit und Liebe aufgebaut werden.

 Sicher gibt es viele und sehr komplexe Probleme, die den Weg zum Frieden steinig, ja oft zu einem entmutigenden Vorhaben machen. Dennoch ist der Friede ein Bedürfnis, das im Herzen eines jeden Menschen tief verwurzelt ist. Man darf deshalb nicht in dem Willen nachlassen, immer wieder nach ihm zu suchen. Dabei müssen wir uns vom Bewußtsein leiten lassen, daß Gott die Menschheit, so sehr sie auch von der Sünde, von Haß und Gewalt gezeichnet ist, dazu berufen hat, eine einzige Familie zu bilden. Diesen göttlichen Plan gilt es anzuerkennen und dadurch zu unterstützen, daß man sich dafür einsetzt, harmonische Beziehungen unter den einzelnen Menschen und zwischen den Völkern zu suchen, und diese in eine Kultur gegenseitigen Austausches einbindet, in der es um Öffnung für das Transzendente, um Förderung des Menschen und um Achtung vor der Natur geht.

 Das ist die Botschaft von Weihnachten, das ist die Botschaft des Jubiläums, das ist mein Wunsch am Anfang eines neuen Jahrtausends.

Mit dem Krieg bleibt die Menschlichkeit als Verlierer zurück

 3. In dem Jahrhundert, das wir hinter uns lassen, ist die Menschheit hart heimgesucht worden von einer endlosen und schrecklichen Folge von Kriegen, Konflikten, Völkermorden und "ethnischer Säuberungen", die unsagbares Leid verursacht haben: Abermillionen von Opfern, zerrissene Familien und zerstörte Länder, Flüchtlingsströme, Elend, Hunger, Krankheiten, Unterentwicklung, Verlust unermeßlicher Ressourcen. Die Wurzel so großen Leides ist eine Logik der Unterdrückung, die genährt wird von dem Verlangen nach Beherrschung und Ausbeutung anderer, von Ideologien der Macht oder eines totalitären Utopismus, von unheilvollen Nationalismen oder Formen alten Stammeshasses. Mitunter war es notwendig, der brutalen systematischen Gewalt, die es sogar auf die völlige Ausrottung oder Versklavung ganzer Völker und Regionen abgesehen hatte, bewaffneten Widerstand zu leisten.

Das 20. Jahrhundert hinterläßt uns als Erbschaft vor allem eine Mahnung: Kriege sind häufig Ursache weiterer Kriege, weil sie tiefe Haßgefühle nähren, Unrechtssituationen schaffen sowie die Würde und Rechte der Menschen mit Füßen treten. Sie lösen im allgemeinen die Probleme nicht, um deretwillen sie geführt werden. Daher stellen sie sich, außer daß sie schreckliche Schäden anrichten, auch noch als nutzlos heraus. Mit dem Krieg bleibt die Menschlichkeit als Verlierer zurück. Nur im Frieden und durch den Frieden ist die Achtung vor der Würde der menschlichen Person und ihrer unveräußerlichen Rechte zu gewährleisten.(1)

 4. Angesichts des Kriegsszenariums des 20. Jahrhunderts wurde die Ehre der Menschheit von denen gerettet, die im Namen des Friedens gesprochen und gehandelt haben.

 Es ist eine gebührende Pflicht, der unzähligen Menschen zu gedenken, die zur Erklärung der Menschenrechte und zu ihrer feierlichen Verkündigung, zur Besiegung totalitärer Regime, zum Ende des Kolonialismus, zur Entwicklung der Demokratie und zur Schaffung großer internationaler Organisationen beigetragen haben. Leuchtende und prophetische Beispiele stellten uns jene vor Augen, die ihren Lebensentscheidungen den Wert der Gewaltlosigkeit verliehen haben. Ihr Zeugnis für konsequente Treue, das oft bis zum Martyrium ging, hat wunderbare und lehrreiche Seiten in das Buch der Geschichte geschrieben.

 Unter denen, die im Namen des Friedens gewirkt haben, darf man die Männer und Frauen nicht vergessen, deren Einsatz auf allen Gebieten von Wissenschaft und Technik großartige Fortschritte ermöglicht hat, was die Überwindung schrecklicher Krankheiten sowie die Verbesserung der Lebensqualität und höhere Lebenserwartung erlaubte.

 Nicht unerwähnt lassen kann ich sodann meine Vorgänger ehrwürdigen Angedenkens, die der Kirche im 20. Jahrhundert vorstanden. Durch ihr erhabenes Lehramt und ihr unermüdliches Wirken haben sie die Kirche bei der Förderung einer Kultur des Friedens gelenkt. Gleichsam als Sinnbild für dieses vielfältige Wirken steht die glückliche und weitblickende Eingebung Pauls VI., der am 8. Dezember 1967 den Weltfriedenstag einführte. Dieser hat als fruchtbare Erfahrung der Reflexion und gemeinsamer Schritte zum Frieden von Jahr zu Jahr mehr Gestalt angenommen.

Die Berufung, eine einzige Familie zu sein

5. "Friede auf Erden den Menschen, die Gott liebt!" Der Wunsch aus dem Evangelium läßt uns die bange Frage stellen: Wird das beginnende Jahrhundert im Zeichen des Friedens und einer wiedergewonnenen Geschwisterlichkeit unter den Menschen und Völkern stehen? Sicher können wir die Zukunft nicht voraussehen. Dennoch dürfen wir ein anspruchsvolles Prinzip festschreiben: Es wird in dem Maße Frieden herrschen, in dem es der ganzen Menschheit gelingt, ihre ursprüngliche Berufung wiederzuentdecken, eine einzige Familie zu sein, in der die Würde und die Rechte der Personen jeden Standes, jeder Rasse und jeder Religion als vorgängig und vorrangig gegenüber jeglicher Unterschiedenheit und Art anerkannt werden.

 Von diesem Bewußtsein her kann die von der Dynamik der Globalisierung gekennzeichnete Verflochtenheit unserer heutigen Welt Seele, Sinn und Richtung erhalten. In diesen Entwicklungen, die freilich nicht ohne Risiken sind, liegen gerade im Hinblick darauf, daß aus der Menschheit eine auf den Werten von Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität gegründete einzige Familie entstehen soll, außerordentliche und vielversprechende Chancen.

 6. Dazu ist eine völlige Umkehr der Sichtweise nötig: Bei allem darf nicht mehr das besondere Wohl einer Gemeinschaft, die auf politischen Gründen, Rassenzugehörigkeit oder kulturellen Motiven gründet, an erster Stelle stehen, sondern das Wohl der ganzen Menschheit. Das Bemühen um die Erreichung des gemeinsamen Wohles einer einzelnen politischen Gemeinschaft darf nicht im Gegensatz zum Gemeinwohl der ganzen Menschheit stehen, das in der Anerkennung und Achtung der Menschenrechte zum Ausdruck kommt, wie sie von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 sanktioniert wurden. Daher müssen die oft durch starke wirtschaftliche Interessen bedingten und bestimmten Konzepte und Praktiken überwunden werden, die das Faktum Nation oder Staat für absolut halten und diesem deshalb jeden anderen Wert unterordnen. Aus dieser Sicht sind die politischen, kulturellen und institutionellen Unterschiede und Differenzierungen, in die sich die Menschheit aufgliedert und organisiert, in dem Maße zulässig, als man sie mit der Zugehörigkeit zur Menschheitsfamilie und mit den sich daraus ergebenden sittlichen und rechtlichen Forderungen in Einklang bringen kann.

Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit

7. Aus diesem Grundsatz ergibt sich eine Konsequenz von enormer Tragweite: Wer die Menschenrechte verletzt, beschädigt das Bewußtsein des Menschseins selbst. Er verletzt die Menschheit als solche. Die Verpflichtung zum Schutz dieser Rechte übersteigt daher die geographischen und politischen Grenzen, innerhalb der sie verletzt worden sind. Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit können nicht als interne Angelegenheiten einer Nation betrachtet werden. Die in die Wege geleitete Errichtung eines internationalen Gerichtshofes, der über diese Verbrechen, wo und wie auch immer sie geschehen, zu befinden hat, ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Wir müssen Gott danken, wenn im Bewußtsein der Völker und der Nationen die Überzeugung weiter wächst, daß es für die Menschenrechte keine Grenzen gibt, weil sie universal und unteilbar sind.

 8. In der heutigen Zeit hat sich die Zahl der Kriege zwischen den Staaten verringert. Diese an sich tröstliche Tatsache wird freilich stark eingeschränkt, wenn man auf die bewaffneten Konflikte schaut, die innerhalb der Staaten entstehen. Sie sind leider sehr zahlreich, praktisch auf allen Kontinenten vorhanden und verlaufen nicht selten äußerst gewaltsam. Sie haben meistens weit in die Geschichte zurückreichende ethnische, stammesbedingte oder auch religiöse Gründe, zu denen jetzt noch weitere Ursachen ideologischer, sozialer und wirtschaftlicher Natur hinzukommen.

 Diese internen Konflikte, die im allgemeinen mit einem erschreckenden Einsatz kleinkalibriger oder sogenannter "leichter", in Wirklichkeit aber äußerst mörderischer Waffen ausgetragen werden, haben oft schwerwiegende Auswirkungen, die über die Grenzen des betreffenden Staates hinausgehen und auswärtige Interessen und Verantwortlichkeiten hineinziehen. Auch wenn es stimmt, daß es wegen ihrer hochgradigen Komplexität sehr schwer fällt, die auf dem Spiel stehenden Ursachen und Interessen zu begreifen und zu bewerten, ergibt sich doch eine unumstößliche Tatsache: Die dramatischsten Folgen dieser Konflikte hat die Zivilbevölkerung zu tragen. Denn weder die allgemeinen noch selbst die für Kriegszeiten geltenden Gesetze werden eingehalten. Weit davon entfernt, geschützt zu werden, sind die Zivilpersonen häufig das erste Ziel der gegnerischen Streitkräfte, wenn sie selbst nicht in einer perversen Spirale, die sie zugleich als Opfer und als Mörder anderer Zivilpersonen sieht in direkte bewaffnete Kampfhandlungen hineingezogen werden.

 Zu zahlreich und zu schrecklich waren und sind noch immer die düsteren Szenarien, wo Kinder, Frauen und wehrlose alte Männer völlig schuldlos und gegen ihren Willen zu Opfern der Konflikte gemacht werden, die unsere Tage mit Blut beflecken; es sind in der Tat zu viele Konflikte, um nicht den Augenblick für gekommen zu halten, mit Entschlossenheit und großem Verantwortungsbewußtsein einen anderen Weg einzuschlagen.

Das Recht auf humanitäre Hilfe

 9. Gegen alle mutmaßlichen "Gründe" für den Krieg muß angesichts ebenso dramatischer wie komplexer Situationen der herausragende Wert des humanitären Rechtes und damit die Pflicht, das Recht auf humanitäre Hilfe für die leidende Bevölkerung und die Flüchtlinge zu gewährleisten, bekräftigt werden.

Die Anerkennung und die tatsächliche Erfüllung dieser Rechte dürfen nicht den Interessen einer Konfliktpartei unterliegen. Es ist im Gegenteil dringend geboten, alle jene institutionellen und nicht institutionellen Möglichkeiten ausfindig zu machen, die die humanitären Zielsetzungen am besten verwirklichen können. Die moralische und politische Legitimation dieser Rechte beruht nämlich auf dem Grundsatz, wonach das Wohl der menschlichen Person vor allem den Vorrang hat und jede menschliche Institution überragt.

10. Ich möchte hier noch einmal meine tiefe Überzeugung bekräftigen, daß angesichts der modernen bewaffneten Konflikte das Mittel der Verhandlung zwischen den Parteien - mit geeigneten Vermittlungs- und Befriedungsinterventionen von seiten internationaler und regionaler Stellen allergrößte Bedeutung gewinnt, sei es, um den Konflikten selbst zuvorzukommen, oder sie, wenn sie einmal ausgebrochen sind, dadurch beizulegen, daß durch eine unparteiische Abwägung der auf dem Spiel stehenden Rechte und Interessen der Friede wiederhergestellt wird.

 Diese Überzeugung von der positiven Rolle von Vermittlungs- und Befriedungsorganen muß auf die humanitären Organisationen, die nicht einer Regierung zugeordnet sind, und auf die religiösen Einrichtungen ausgeweitet werden, die diskret und ohne Berechnung den Frieden zwischen den unterschiedlichen Gruppen fördern und helfen, alte Gefühle der Verbitterung zu überwinden, Feinde zu versöhnen und den Weg in eine neue und gemeinsame Zukunft zu eröffnen. Während ich ihnen für ihre edle Hingabe an die Sache des Friedens meine Hochachtung ausspreche, möchte ich mit tiefbewegter Anerkennung all derer gedenken, die ihr Leben hingegeben haben, damit andere leben können: für sie erhebe ich mein Gebet zu Gott und lade auch die Gläubigen ein, dasselbe zu tun.

 "Einmischung aus humanitären Gründen"

11. Wenn die Zivilbevölkerung Gefahr läuft, unter den Schlägen eines ungerechten Angreifers zu erliegen, und die Anstrengungen der Politik und die Mittel gewaltloser Verteidigung nichts fruchteten, ist es offensichtlich legitim und sogar geboten, sich mit konkreten Initiativen für die Entwaffnung des Aggressors einzusetzen. Diese Initiativen müssen jedoch zeitlich begrenzt und in ihren Zielen klar bestimmt sein, sie müssen unter voller Achtung des internationalen Rechtes durchgeführt und von einer auf übernationaler Ebene anerkannten Autorität garantiert werden. Keinesfalls dürfen sie der reinen Logik der Waffen überlassen bleiben.

 Daher wird man umfassend und bestmöglich das anwenden müssen, was von der Charta der Vereinten Nationen vorgesehen ist. Zusätzlich gilt es, wirksame Mittel und Möglichkeiten einer Intervention im Rahmen des internationalen Rechts festzulegen. In diesem Zusammenhang muß die Organisation der Vereinten Nationen selbst allen Mitgliedsstaaten eine angemessene Gelegenheit zur Beteiligung an den Entscheidungen bieten, indem sie Bevorzugungen und Diskriminierungen überwindet, die ihre Rolle und Glaubwürdigkeit schwächen.

12. Hier öffnet sich ein sowohl für die Politik wie für das Recht neues Feld der Überlegung und Beratung, ein Feld, von dem wir alle wünschen, daß es mit Leidenschaft und Weisheit bestellt wird. Dringend notwendig und unaufschiebbar ist eine Erneuerung des internationalen Rechtes und der internationalen Institutionen, die als Ausgangspunkt und grundlegendes Organisationskriterium den Vorrang des Wohles der Menschheit und der einzelnen menschlichen Person vor allem anderen hat. Diese Erneuerung ist um so dringender, wenn wir das Paradoxon des Krieges in unserer Zeit betrachten, wie es auch in den jüngsten Konflikten zutage getreten ist, wo der größtmöglichen Sicherheit für die Soldaten erschütternde ständige Gefahrensituationen für die Zivilbevölkerung gegenüberstanden. Es gibt keine Art des Konflikts, die das Recht der Zivilpersonen auf Unversehrtheit zu verletzen legitimiert.

Grundlegend bleibt jenseits der juristischen und institutionellen Perspektiven die Verpflichtung aller Männer und Frauen guten Willens, die dazu berufen sind, sich für den Frieden einzusetzen: die Verpflichtung, zum Frieden zu erziehen, Friedensstrukturen und Mittel der Gewaltlosigkeit zu entwickeln, alle nur möglichen Anstrengungen zu unternehmen, um Konfliktparteien an den Verhandlungstisch zu bringen.

Der Friede in der Solidarität

13. "Friede auf Erden den Menschen, die Gott liebt!" Von der Problematik des Krieges wendet sich der Blick naturgemäß einer anderen Dimension zu, die mit dieser in besonderer Weise verbunden ist: die Frage der Solidarität. Die vornehme und anspruchsvolle Aufgabe des Friedens, die der Berufung der Menschheit, Familie zu sein und sich als Familie zu bekennen, innewohnt, hat ihre Stärke in dem Prinzip von der universalen Bestimmung der Güter der Erde, ein Prinzip, das dem Menschen das Recht auf Privateigentum nicht abspricht, sondern dessen Verständnis und Verwaltung für seine unabdingbare soziale Funktion erschließt, zum allgemeinen und besonders zum Wohl der schwächsten Glieder der Gesellschaft.(2) Dieses Grundprinzip bleibt leider weitgehend unbeachtet: Das beweist das fortbestehende und sich noch ausweitende Gefälle zwischen dem Norden der Welt, wo eine steigende Übersättigung mit Gütern und Ressourcen ebenso festzustellen ist wie eine wachsende Überalterung, und dem Süden, wo sich inzwischen die große Mehrheit der jungen Generationen konzentriert, die noch immer ohne glaubwürdige Aussicht auf soziale, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung sind.

 Niemand möge sich der Täuschung hingeben, die bloße Abwesenheit von Krieg, so wünschenswert sie ist, sei gleichbedeutend mit dauerhaftem Frieden. Es gibt keinen echten Frieden, wenn mit ihm nicht Gleichheit, Wahrheit, Gerechtigkeit und Solidarität einhergehen. Jedes Vorhaben, das zwei untrennbare und voneinander abhängige Rechte, das Recht auf Frieden und das Recht auf eine unverkürzte und solidarische Entwicklung, auseinanderhalten möchte, ist zum Scheitern verurteilt. "Ungerechtigkeiten, krasse Unterschiede in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht sowie Neid, Mißtrauen und Stolz, die unter den Menschen und den Nationen wüten, bedrohen unablässig den Frieden und führen zu Kriegen. Alles, was unternommen wird, um diese Übel zu besiegen, trägt zum Aufbau des Friedens und zur Vermeidung des Krieges bei".(3)

 14. Am Beginn eines neuen Jahrhunderts ist die Armut von Milliarden Männern und Frauen die Frage, die mehr als jede andere an unser menschliches und christliches Gewissen appelliert. Die Dramatik dieser Frage wird noch erhöht durch das Wissen darum, daß die größten wirtschaftlichen Probleme unserer Zeit nicht auf den Mangel an Ressourcen, sondern darauf zurückgehen, daß die heutigen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Strukturen Mühe damit haben, den Anforderungen einer echten Entwicklung zu entsprechen.

 Mit Recht verlangen die Armen - sowohl jene der Entwicklungsländer wie auch jene der wohlhabenden, reichen Länder - "das Recht, an der Nutzung der materiellen Güter teilzuhaben und ihre Arbeitsfähigkeit einzubringen, um eine gerechtere und für alle glücklichere Welt aufzubauen. Die Hebung der Armen ist eine große Gelegenheit für das sittliche, kulturelle und wirtschaftliche Wachstum der gesamten Menschheit".(4) Sehen wir die Armen nicht als ein Problem an! Sie können in unseren Augen zu Trägern und Vorkämpfer einer neuen und menschlicheren Zukunft für die ganze Welt werden.

Die Wirtschaft muß umdenken

15. Aus dieser Perspektive muß man sich auch die Frage über jenes wachsende Unbehagen stellen, das heutzutage viele Gelehrte und Wirtschaftsexperten spüren, wenn sie über die Rolle des Marktes, über die alles durchdringende Währungs- und Finanzdimension, über das Auseinanderklaffen zwischen dem ökonomischen und dem sozialen Bereich sowie über andere ähnliche Themen wirtschaftlicher Aktivität nachdenken. Es geht dabei um Probleme, die sich im Hinblick auf die Armut, den Frieden, die Ökologie und die Zukunft der Jugend stellen.

 Vielleicht ist der Augenblick für eine neue und vertiefte Reflexion über den Sinn der Wirtschaft und ihrer Ziele gekommen. In diesem Zusammenhang scheint es dringend notwendig, daß das Verständnis dessen, was Wohlstand eigentlich ist, neu überdacht wird, damit es nicht von einer verengten Nützlichkeitsperspektive beherrscht wird, die Werten wie Solidarität und Altruismus nur abseits und ganz am Rande Raum läßt.

16. Hier möchte ich die Vertreter der Wirtschaftswissenschaften und die Manager selbst sowie auch die verantwortlichen Politiker auffordern, die dringende Notwendigkeit zur Kenntnis zu nehmen, daß das wirtschaftliche Handeln und die entsprechenden politischen Maßnahmen das Wohl eines jeden Menschen in seiner Ganzheitlichkeit anstreben sollen. Das ist nicht nur eine Forderung der Ethik, sondern auch einer gesunden Wirtschaft. Die Erfahrung scheint nämlich bestätigt zu haben, daß der wirtschaftliche Erfolg zunehmend davon abhängt, daß die Menschen und ihre Fähigkeiten aufgewertet, die Beteiligung gefördert, Kenntnisse und Informationen stärker und besser vermittelt werden und die Solidarität wächst.

 Es handelt sich dabei um Werte, die der Wirtschaft in Wissenschaft und Praxis keineswegs fremd sind und dazu beitragen, daraus eine Wissenschaft und eine Praxis zu machen, die ganz und gar "human" sind. Eine Wirtschaft, welche die ethische Dimension unbeachtet läßt und sich nicht darum kümmert, dem Wohl eines jeden Menschen in seiner Ganzheitlichkeit zu dienen, kann sich eigentlich gar nicht "Ökonomie" nennen, wenn man diese im Sinne einer vernünftigen und wohltätigen Verwaltung des materiellen Reichtums versteht.

Für welche Entwicklungsmodelle soll man sich entscheiden?

17. Obgleich die Menschheit dazu berufen ist, eine einzige Familie zu sein, wird sie noch immer auf dramatische Weise von der Armut in zwei Teile gespalten: Am Beginn des 21. Jahrhunderts leben mehr als eine Milliarde und vierhundert Millionen Menschen in äußerster Armut. Deshalb ist ein Überdenken der Modelle, welche die Entscheidungen für die Entwicklung inspirieren, besonders dringend geboten.

 In diesem Zusammenhang wird man die berechtigten Forderungen nach wirtschaftlicher Effizienz besser mit den Forderungen nach politischer Beteiligung und sozialer Gerechtigkeit in Einklang bringen müssen, ohne wieder in die im 20. Jahrhundert begangenen ideologischen Fehler zu verfallen. Konkret bedeutet das: Das Netz der gegenseitigen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Abhängigkeiten, auf dessen Verstärkung die stattfindenden Globalisierungsprozesse abzielen, sollte mit Solidarität verknüpft werden.

Diese Prozesse verlangen ein Umdenken der internationalen Zusammenarbeit, die sich in einer neuen Kultur der Solidarität buchstabiert. Als Same des Friedens verstanden, darf sich die Zusammenarbeit nicht auf Hilfe und Beistand beschränken und dabei gar noch auf Vorteile abzielen, die auf die zur Verfügung gestellten Finanzmittel zurückfließen. Statt dessen muß sie ein konkretes und greifbares Bemühen um Solidarität zum Ausdruck bringen, das die Armen zu Vorkämpfern ihrer eigenen Entwicklung macht und es möglichst vielen Personen erlaubt, in den konkreten wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen, in denen sie leben, die Kreativität zu entfalten, die ein typisches Merkmal der menschlichen Person ist und von der auch der Reichtum der Nationen abhängt.(5)

 Besonders ist es geboten, endgültige Lösungen für das alte Problem der internationalen Verschuldung der armen Länder zu finden und gleichzeitig auch die Bereitstellung der nötigen finanziellen Mittel für den Kampf gegen Hunger, Unterernährung, Krankheiten, Analphabetismus und den Verfall der Umwelt zu gewährleisten.

18. Dringender als in der Vergangenheit stellt sich heute die Notwendigkeit, das Gewissen für universale moralische Werte zu bilden, um sich den Problemen der Gegenwart stellen zu können. Deren gemeinsames Merkmal besteht ja in der weltweiten Dimension, die sie annehmen. Die Förderung des Friedens und der Menschenrechte; die Beilegung der bewaffneten Konflikte innerhalb und außerhalb der Staaten; der Schutz der ethnischen Minderheiten und der Migranten; der Umweltschutz; der Kampf gegen furchtbare Krankheiten; das Vorgehen gegen Drogen- und Waffenhändler und gegen politische und wirtschaftliche Korruption: das sind Probleme, die heute keine Nation allein zu bewältigen vermag. Da sie die gesamte menschliche Gemeinschaft betreffen, müssen sie durch gemeinsames Handeln angegangen und gelöst werden.

 Man muß einen Weg finden, um in einer verständlichen und gemeinsamen Sprache die Probleme zu diskutieren, die von der Zukunft des Menschen aufgeworfen werden. Grundlage dieses Dialogs ist das allgemeine Sittengesetz, das dem Menschen ins Herz eingeschrieben ist. Wenn die menschliche Gemeinschaft dieser "Grammatik" des Geistes folgt, kann sie die Probleme des Zusammenlebens anpacken und sich unter Achtung des Planes Gottes auf die Zukunft hinbewegen.(6)

 Aus der Begegnung zwischen Glaube und Vernunft, zwischen religiösem Sinn und sittlichem Bewußtsein leitet sich ein entscheidender Beitrag ab, um dem Dialog und der Zusammenarbeit zwischen den Völkern, Kulturen und Religionen eine Richtung zu geben.

Jesus, das Geschenk des Friedens

19. "Friede auf Erden den Menschen, die Gott liebt!" Auf der ganzen Welt sind die Christen im Hinblick auf das Große Jubiläum damit beschäftigt, in feierlicher Form das Gedächtnis der Menschwerdung Gottes zu begehen. Während sie die Botschaft der Engel über dem Himmel von Betlehem neu hören (vgl. Lk 2,14), gedenken sie des Ereignisses aus dem Bewußtsein heraus, daß Jesus "unser Friede ist" (Eph 2,14). Er ist das Geschenk des Friedens für alle Menschen. Seine ersten Worte an die Jünger nach der Auferstehung lauteten: "Friede sei mit euch!" (Joh 10,19.21.26). Er ist gekommen, um zu einen, was getrennt war. Er hat die Sünde und den Haß zunichte gemacht und so in der Menschheit die Berufung zu Einheit und Geschwisterlichkeit wiedererweckt. Deshalb ist er "Ursprung und Urbild dieser erneuerten, von brüderlicher Liebe, Lauterkeit und Friedensgeist durchdrungenen Menschheit, nach der alle verlangen".(7)

20. In diesem Jubiläumsjahr will die Kirche im lebendigen Gedenken an ihren Herrn ihre Berufung und Sendung bekräftigen. Sie will in Christus "Sakrament" sein, das heißt Zeichen und Werkzeug des Friedens in der Welt und für die Welt. Erfüllung ihrer evangelisatorischen Sendung bedeutet für die Kirche Arbeit für den Frieden. "So ist die Kirche, Gottes alleinige Herde, wie ein unter den Völkern erhobenes Zeichen. Indem sie dem ganzen Menschengeschlecht den Dienst des Evangeliums des Friedens leistet, pilgert sie in Hoffnung dem Ziel des ewigen Vaterlandes entgegen".(8)

 Der Einsatz zum Aufbau von Frieden und Gerechtigkeit ist für die katholischen Christen daher keine nebensächliche, sondern eine wesentliche Aufgabe, der sie mit Offenheit gegenüber den Brüdern und Schwestern der anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, gegenüber den Gläubigen anderer Religionen und gegenüber allen Männern und Frauen guten Willens, mit denen sie dieselbe Sorge um Frieden und Brüderlichkeit teilen, nachkommen sollen.

Sich hochherzig für den Frieden einsetzen

21. Anlaß zu Hoffnung gibt die Feststellung, daß trotz vielfältiger und schwerwiegender Hindernisse weiterhin durch die hochherzige Zusammenarbeit so vieler Menschen täglich Friedensinitiativen und Friedensprojekte entstehen. Der Friede ist ein Gebäude, an dem ständig gearbeitet wird. An seinem Aufbau wirken mit:

- die Eltern, die in der Familie den Frieden leben und bezeugen und so ihre Kinder zum Frieden erziehen;

- die Lehrer, die es verstehen, echte Werte weiterzugeben, die sich auf jedem Wissensgebiet sowie im historischen und kulturellen Erbe der Menschheit finden;

 - die Männer und Frauen in der Arbeitswelt, die sich darum bemühen, ihren jahrhundertelangen Kampf für die Würde der Arbeit weiterzuführen im Angesicht der neuen Verhältnisse, die auf internationaler Ebene Gerechtigkeit und Solidarität erfordern;

- die Regierenden, die als Mittelpunkt ihres eigenen und des politischen Handelns ihrer Länder die feste Überzeugung gewählt haben, sich für Frieden und Gerechtigkeit einzusetzen.

- alle, die in den internationalen Organisationen oft mit wenigen Mitteln an vorderster Front tätig sind, wo es auch im Hinblick auf die persönliche Unversehrtheit ein gefährliches Unterfangen ist, als "Friedensstifter" zu wirken;

- die Mitglieder der regierungsunabhängigen Organisationen, die sich durch Studium und aktiven Einsatz in verschiedenen Teilen der Welt und in den unterschiedlichsten Situationen der Vorbeugung und der Lösung von Konflikten widmen;

- die Gläubigen, die aus der Überzeugung, daß der echte Glaube niemals Quelle für Krieg oder Gewalt sein kann, durch den ökumenischen und den interreligiösen Dialog die Argumente fördern, die für den Frieden und die Liebe sprechen.

22. Meine Gedanken wenden sich besonders Euch zu, liebe Jugendliche. Ihr erfahrt ja in besonderer Weise den Segen des Lebens, das Ihr nicht vergeuden dürft. Laßt Euch in den Schulen und an den Universitäten, in der Arbeitswelt, in Freizeit und Sport, in allem, was Ihr tut, ständig von diesem Gedanken leiten: Friede sei in Euch und um Euch. Immer sei Friede, Friede mit allen und Friede für alle. Die jungen Menschen, die leider die tragische Erfahrung des Krieges erlebt haben und Gefühle des Hasses und der Vergeltung empfinden, flehe ich an: Tut Euer Möglichstes, um auf den Weg der Versöhnung und Vergebung zurückzufinden! Dieser Weg ist steinig. Doch es ist der einzige Weg, der es Euch erlaubt, hoffnungsfroh in die Zukunft zu blicken für Euch, für Eure Kinder, Eure Länder und für die ganze Menschheit.

 Ich werde Gelegenheit haben, diesen Dialog mit Euch, liebe Jugendliche, fortzuführen, wenn wir uns im kommenden August in Rom treffen anläßlich des Jugendtages im Jubeljahr, der eigens Euch gewidmet ist.

 Papst Johannes XXIII. hat sich in einer seiner letzten Ansprachen noch einmal an "die Menschen guten Willens" gewandt, um sie einzuladen, sich für ein Friedensprogramm einzusetzen, das auf dem "Evangelium des Gehorsams gegenüber Gott, der Barmherzigkeit und des Verzeihens" ruht. Und er fügte hinzu: "Dann wird sich ohne Zweifel die helle Fackel des Friedens ihre Bahn brechen. Sie wird ihren Weg gehen, während sie auf der ganzen Erde in den Menschen die Freude entzündet und das Licht und die Gnade in deren Herzen ausgießt. Über alle Grenzen hinweg dürfen sie Gesichter von Brüdern und Schwestern, Gesichter von Freunden entdecken".(9) Mögt Ihr, Jugendliche des Jahres 2000, Gesichter von Brüdern und Schwestern, Gesichter von Freunden entdecken und entdecken lassen!

 In diesem Jubiläumsjahr, in dem sich die Kirche durch besondere Fürbitten dem Gebet für den Frieden widmen wird, wenden wir uns in kindlicher Verehrung an die Mutter Jesu und rufen sie an als Königin des Friedens. In reichem Maß möge sie die Gaben ihrer mütterlichen Güte ausspenden und der Menschheit helfen, eine einzige Familie zu werden in Solidarität und Frieden.

Aus dem Vatikan, am 8. Dezember des Jahres 1999


(1) Vgl. JOHANNES PAUL II., Botschaft zum Weltfriedenstag 1999, Nr. 1.
(2) Vgl. JOHANNES PAUL II., Enzyklika Centesimus annus (1. Mai 1991), 30-43: AAS 83 (1991), 830-848.
(3) Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 2317.
(4) JOHANNES PAUL II., Enzyklika Centesimus annus (1. Mai 1991), 28: AAS 83 (1991), 828. (5) Vgl. JOHANNES PAUL II., Ansprache vor den Vereinten Nationen am 50. Jahrestag ihres Bestehens (5. Oktober 1995), 13: Insegnamenti 18/2 (1995), 739-740.
(6) Vgl. ebd., 3: a.a.O., 732.
(7) II. VAT. KONZIL, Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche Ad gentes, 8.
(8) II. VAT. KONZIL, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 2.
(9) Anläßlich der Überreichung des Balzanpreises am 10. Mai 1963: AAS 55 (1963), 455.



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