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ANSPRACHE VON JOHANNES PAUL II.
AN DEN BOTSCHAFTER DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND
 BEIM HEILIGEN STUHL ANLÄSSLICH DER ÜBERGABE
DER BEGLAUBIGUNGSSCHREIBEN

 19. Oktober 2000

 

Sehr geehrter Herr Botschafter!

1. Nehmen Sie meinen aufrichtigen Dank entgegen für die sehr freundlichen Worte anläßlich der Überreichung Ihres Beglaubigungsschreibens als neuer außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter der Bundesrepublik Deutschland beim Heiligen Stuhl. Zu Ihrem Amtsantritt heiße ich Sie herzlich willkommen und beglückwünsche Sie zu dieser ehrenvollen und bedeutsamen Aufgabe. Gleichzeitig bitte ich Sie, dem verehrten Herrn Bundespräsidenten meine besten Grüße zu bestellen und ihm gute Gesundheit zu wünschen. Sie beginnen Ihren Dienst in einer Zeit, da sich das Große Jubiläum des Jahres 2000 dem Ende entgegenneigt. Das Leitwort "Jesus Christus ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit" hat auch den Menschen wieder in das Licht gerückt, das seine Würde als Bild und Gleichnis Gottes in vollem Glanz erstrahlen läßt.

2. Die Botschaft von der unveräußerlichen Würde eines jeden Menschen in Erinnerung zu rufen, ist gerade am Ausgang des 20. Jahrhunderts besonders dringend, zumal die letzten hundert Jahre, von Blut und Tränen getränkt, auch wegen ihrer Konflikte und Kriege in die Geschichte eingehen werden. Doch durften sich in den letzten Wochen Ihre Landsleute, die Bürger der befreundeten Nachbarstaaten und unzählige Menschen in Europa und auf der ganzen Welt auch an die freudigen Ereignisse erinnern, die vor mehr als zehn Jahren behutsam und zugleich entschlossen den Prozeß des Zusammenwachsens Ihres Landes so eingeleitet hatten, daß es schließlich zu dem denkwürdigen Geschehen am 3. Oktober 1990 kommen konnte: Deutschland - einig Vaterland. Die Mauer von Berlin war gefallen. Das Brandenburger Tor, das Jahrzehnte lang geschlossen geblieben war und als Symbol der Trennung galt, wurde geöffnet und stellt nun wieder das dar, was es vorher war: ein Zeichen der Einheit. So hat sich die Forderung des Grundgesetzes, die Einheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung zu verwirklichen, erfüllt. Mit Recht kann man sagen: Das Brandenburger Tor ist zum Tor der Einheit und Freiheit geworden.

Durch die sanfte Revolution, die ohne Blutvergießen der Freiheit Bahn gebrochen hat, wurden vor mehr als zehn Jahren große Hoffnungen geweckt. Das Wort von den blühenden Landschaften, das lange als Utopie abgetan worden war, hat sich - wenn auch mit Verzögerung - in nicht wenigen Teilen der neuen Bundesländer als zutreffend erwiesen. Doch Arbeitslosigkeit und neue Armut sind die Kehrseite einer Medaille, die von vorn betrachtet wirtschaftlichen Aufschwung und äußeren Wohlstand, reiches Warenangebot und Ausbau der Infrastruktur zeigt. Vor allem die Überwindung der geistigen Orientierungslosigkeit und inneren Leere als Folgeerscheinungen der jahrzehntelangen kommunistischen Indokrination stellt eine Aufgabe dar, die nicht so schnell zu bewältigen ist und große Anstrengungen notwendig macht.

Viele Menschen haben die Herausforderungen der vergangenen zehn Jahre beherzt angenommen und leisten ihren Beitrag, daß immer mehr auch innerlich zusammenwächst, was äußerlich wieder vereinigt wurde. Sie sehen darin eine Schule der Solidarität, in der man lernen kann, mit Rat und Tat denen zur Seite zu stehen, die ihre Existenz auf festen Grund stellen wollen. Den Verantwortlichen in der Regierung Ihres Landes und allen, die auf den vielfältigen Ebenen und in den verschiedenen Sektoren der Gesellschaft mit dem langen Atem der Leidenschaft das innere Zusammenwachsen der einst künstlich getrennten Teile Deutschlands und das Wohlergehen seiner Bürgerinnen und Bürger fördern, spreche ich meine aufrichtige Anerkennung aus. Mit vereinten Kräften ist es gelungen, eine nicht einfache Phase der Geschichte Deutschlands friedlich zu bewältigen. Schranken, Stacheldraht und Schießbefehl, die einst Familien schmerzlich voneinander trennten, sind verbindenden Brücken, freien Straßen und offenen Türen gewichen.

3. Es erfüllt mich mit Freude, daß der hohe Einsatz für die Einheit Deutschlands den Blick auf die Einigung Europas nicht verstellt hat. Im Gegenteil: Die Wiedervereinigung Ihres Vaterlandes wurde für die Verantwortlichen in Staat und Gesellschaft sogar ein Ansporn dazu, über Deutschland hinaus den Blick auf Europa zu weiten, das durch den Fall des Eisernen Vorhangs ganz neue Horizonte erhält. Mit Hochachtung stelle ich fest, daß die Bundesrepublik Deutschland eine international angesehene Autorität und ein gesuchter Partner ist. Deutschland hat sich der wachsenden Verantwortung gestellt und spielt eine entscheidende Rolle im europäischen Einigungsprozeß. Es ist in der Lage, seinem Auftrag wirkungsvoll nachzukommen, da die demokratischen Institutionen des Staates nach jahrzehntelanger Erfahrung stabil sind und die Bürger sich mit überwältigender Mehrheit zu ihnen bekennen. Gern benütze ich die Gelegenheit, gegenüber Ihnen, dem Botschafter eines Landes, das ohne Zweifel zu den "Säulen" des europäischen Hauses gehört, meiner Hoffnung Ausdruck zu verleihen, daß es im Rahmen der weiteren Beitrittsverhandlungen gelingen möge, den Westen und Osten des alten Kontinents einander näher zu bringen, jene beiden Lungen, ohne die Europa nicht atmen kann.

Die Verschiedenheit der östlichen und westlichen Traditionen wird Europas Kultur bereichern sowie durch deren Bewahrung und gegenseitige Ausleuchtung als Grundlage für die ersehnte geistige Erneuerung dienen. Deshalb sollte vielleicht weniger von einer "Osterweiterung" als von einer "Europäisierung" des gesamten Kontinents die Rede sein. Was nach dem Bröckeln der Mauer das Motto für Deutschland war, kann auch als Regel für die Einigung Europas dienen: Es soll zusammenwachsen, was zusammengehört.

Nicht Kühnheit oder Träumerei bewegen mich zu diesen Gedanken, sondern eine Vision, die in hoffnungsvollem Realismus gründet. Gerade meine drei Pastoralbesuche in Deutschland, einer Schatzkammer europäischer Zivilisation, haben in mir eine wichtige Erkenntnis wachgerufen: Europäische Kunst und Kultur, Geschichte und Gegenwart waren und sind noch so sehr vom Christentum geformt, daß es ein völlig entchristlichtes oder gar atheistisches Europa gar nicht geben kann. Gleichzeitig bin ich davon überzeugt: Deutschland und Europa haben nur dann eine Zukunft, wenn sie um ihre Herkunft wissen.

4. Nicht zuletzt deshalb, weil sich Ihr geschätztes Land in einer Art ständigen kollektiven Gewissenserforschung seiner eigenen Geschichte bewußt bleibt und aufmerksam an der "Reinigung seines Gedächtnisses" weiterarbeitet, ist es besonders sensibel gegenüber Unrecht und Mißachtung der Menschenrechte. In der Tat läßt sich in vielen modernen Demokratien zunehmend die Beobachtung machen, daß sich gerade bei jungen Menschen eine spontane Gewaltbereitschaft mit politisch gewollter und organisierter Ideologie paart, was auf Dauer den inneren Frieden belasten könnte. Allgemeine Appelle und die Aufforderung, aus der Geschichte zu lernen, reichen sicher nicht aus, um das geistige und geistliche Vakuum, das sich ausgebreitet hat, zu überwinden. Gefordert ist vielmehr eine aufmerksame und sensible Kultur der Werte des Geistes unter den jüngeren Generationen ebenso wie konkrete Versöhnungsarbeit, die nicht nur das Vergangene aufrechnet, sondern auf Zukunft hin hilft, gegenseitige Vorurteile abzubauen, und so dazu beiträgt, daß Deutschland als fester Tragpfeiler das gemeinsame Haus Europa stützen kann.

Ich bin mir bewußt, daß dieses Vorhaben hohe Maßstäbe setzt. Denn aus einer westeuropäischen Wohlstandsinsel muß mehr und mehr ein gesamteuropäischer Raum der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens werden. Materielle Opfer werden für die wohlhabenderen Länder unvermeidlich sein, wenn das unmenschliche Wohlstandsgefälle innerhalb Europas allmählich abgeflacht werden soll. Daneben ist geistige Hilfe nötig, um den weiteren Aufbau demokratischer Strukturen und eine Kultur der Politik im Sinne rechtsstaatlicher Verhältnisse zu fördern. In diesem Bemühen bietet die katholische Kirche mit ihren weitverzweigten religiösen und sozialen Einrichtungen ihre selbstlose und für alle offene Hilfe an. Als Wegweiser für das Weitergehen legt sie die katholische Soziallehre vor, in der die Sorge und Verantwortung für den Menschen im Mittelpunkt steht: "Es handelt sich nicht um einen 'abstrakten Menschen', sondern um den realen, 'konkreten' und 'geschichtlichen' Menschen", den die Kirche nicht verlassen darf (Enzyklika Centesimus annus, Nr. 53).

5. In diesem Zusammenhang komme ich auf ein Anliegen zurück, das mein Herz tief bewegt und mich gerade in dieser geschichtlichen Stunde, die von unerhörten und rasanten wissenschaftlichen Fortschritten gezeichnet ist, meine Stimme erheben läßt. Da der Mensch sich anschickt, den komplizierten Bauplan der menschlichen Genetik zu entschlüsseln, ist es ein Gebot der Stunde, den Gang der Wissenschaft in eine Kultur des Lebens und der Liebe einzubetten. Der Mensch darf nicht alles, was er kann. Denn "im heutigen gesellschaftlichen Kontext, der von einem dramatischen Kampf zwischen der 'Kultur des Lebens' und der 'Kultur des Todes' gekennzeichnet ist, muß man einen starken kritischen Geist zum Reifen bringen, der die wahren Werte und die echten Erfordernisse zu erkennen in der Lage ist. Wir müssen alle zusammen eine neue Kultur des Lebens aufbauen: neu, weil sie in der Lage sein muß, die heute neu anstehenden Probleme in bezug auf das Leben des Menschen aufzugreifen und zu lösen; neu, weil sie eben mit stärkerer und tätiger Überzeugung von seiten aller Christen aufgebaut werden muß" (Enzyklika Evangelium vitae, Nr. 95).

6. Damit sind zwei Stichpunkte gegeben, die ich noch etwas vertiefen möchte. Die Neuheit der Probleme stellt sich zunächst im Kontext der Freiheit, in deren Namen manche meinen, alles sei erlaubt, was beliebt. Doch Freiheit heißt nicht Beliebigkeit. Freiheit ist kein Freibrief. Wer aus der Freiheit einen Freibrief macht, hat ihr bereits den Todesstoß versetzt. Freiheit braucht Bindung. Wer wirklich frei ist, weiß sein Erkennen und Handeln an die Wahrheit gebunden. Die erste und oberste Wahrheit über den Menschen besteht darin, daß er sich nicht selbst verdankt, sondern Geschöpf Gottes ist. Wie der Mensch sich sein Leben nicht selbst gegeben hat, so kann - selbst aus vermeintlich humanitären Gründen - keiner das Recht beanspruchen, sich oder anderen das Leben zu nehmen.

Von dieser grundlegenden Wahrheit geleitet, drängt es mich, unermüdlich die unantastbare Würde eines jeden Menschen anzumahnen, vom Augenblick seiner Zeugung an bis hin zum natürlichen Tod. Ich freue mich, daß das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland auf der gleichen Basis fußt. Es atmet ja aus dem "Bewußtsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen" (Präambel) und stellt allen anderen Äußerungen die Erkenntnis voraus: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt" (Art. 1). Gerade wenn es um die Würde des Menschen geht, möchte die Kirche dem Staat zur Seite stehen. Denn pluralistische Gesellschaften erwarten keinen wertfreien Staat.

Daher macht die Kirche dem Staat ein Angebot, das sie als Dienst am Menschen versteht: Dieser soll befähigt werden, die wahrhaft menschenwürdige Freiheit zu erkennen, zu erlernen und zu leben. Daraus leitet sich auch die Präsenz der Kirche in zahlreichen staatlichen Institutionen wie Schulen und Universitäten, Krankenhäusern und Kasernen ab. Ich stelle mit Freude fest, daß diese ausgestreckte Hand der Kirche auch von den neuen Bundesländern ergriffen wurde, was sich in den konkordatären Vereinbarungen niederschlägt, die der Heilige Stuhl in den Jahren nach der Wende mit den Ländern Sachsen, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt abschließen konnte. Damit wurde für die Kirche der Rahmen geschaffen, um ihr seelsorgliches Wirken um des Menschen willen in einem Umfeld zu intensivieren, in dem die Rede von Gott jahrzehntelang unterdrückt wurde.

7. Ein weiteres Stichwort, das im Zusammenhang der Neuheit unserer Zeit zu nennen ist, haben Sie selbst mit der Ökumene angesprochen. Wie Deutschland das Land ist, von dem die Reformation ausgegangen ist, so gibt es auch Anzeichen, die im Hinblick auf die Zukunft Hoffnungen wecken. Gern erinnere ich mich an die Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung, die vor fast einem Jahr in Augsburg von Vertretern der katholischen Kirche und des Lutherischen Weltbundes feierlich vollzogen wurde. Ich sehe darin einen "Meilenstein auf dem nicht leichten Weg zur Wiederherstellung der vollen Einheit zwischen den Christen" und bekräftige, daß das Dokument eine sichere Basis bildet, um die weitere theologische Forschung auf ökumenischem Gebiet voranzutreiben und den noch verbleibenden Schwierigkeiten mit begründeter Hoffnung auf eine zukünftige Lösung zu begegnen (Angelus am 31. Oktober 1999).

Während ich nicht müde werde, dem Herrn der Geschichte für dieses erreichte Zwischenziel zu danken, halte ich es zugleich für angezeigt, dem ökumenischen Weitergehen auf die volle Einheit hin eine Richtung zu weisen, die gerade im Hinblick auf die Kultur des Lebens aktueller ist denn je. Vielleicht hat man sich bisweilen so auf die Ökumene in Lehre und Gottesdienst konzentriert, daß die Kraft fehlte für die Ökumene in den Parteien und Parlamenten, auf sozialem und kulturellem Gebiet. Dabei gibt es auch einen gemeinsamen Einsatz für das Reich Gottes, der weit über den Bereich der Ambonen und Altäre hinausgeht und alle - die einzelnen, die Gesellschaft, die ganze Welt - einbezieht, um Politik, Wirtschaft und Kultur zu durchdringen. Gerade die Neuheit der Probleme, die den Menschen in seiner personalen Würde tangieren, schreit gleichsam nach dem gemeinsamen Zeugnis aller, die sich Christen nennen.

Diese Ökumene des Zeugnisses zugunsten einer authentischen Kultur des Lebens ist ein Dienst, den die Christen ihren Zeitgenossen schuldig sind. Dazu gesellen sich noch weitere Themen wie die Bewahrung der Schöpfung, der Schutz des Sonntags sowie die Heiligkeit der Ehe als "einer nach göttlicher Ordnung festen Institution auch gegenüber der Gesellschaft" (Pastorale Konstitution Gaudium et spes, Nr. 48) und der Schutz der Familie als des Fundamentes der Gesellschaft (ebd. 52). Denn vor den Augen einer Welt, in der immer mehr Menschen so leben, als ob es Gott nicht gäbe, muß "die Zusammenarbeit unter den Christen die Dimension des gemeinsamen christlichen Zeugnisses annehmen" (Enzyklika Ut unum sint, Nr. 40). Vor allem wenn es um Leben und Tod des Menschen geht, kann es für die Christen keinen Kompromiß geben, sondern nur den Kompaß der Wahrheit, die Gott selbst über den Menschen offenbart hat.

8. Ich kann meine Überlegungen nicht schließen, ohne meiner festen Zuversicht Ausdruck zu geben, daß sich die freundschaftlichen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Heiligen Stuhl, die Sie in Ihrer Ansprache zu Recht betont haben, weiter fruchtbar entwickeln. Das enge wechselseitige Verhältnis zwischen Staat und Kirche, das beide Seiten in feinfühliger Verantwortung und aus erprobter Erfahrung wahrnehmen und als bereichernd empfinden, stellt hierfür eine zuverlässige Voraussetzung dar. Indem ich Ihnen, Herr Botschafter, von Herzen einen glücklichen Einstand in Rom wünsche, erbitte ich Ihnen, Ihren geschätzten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Botschaft und nicht zuletzt Ihrer werten Familie gern den Segen des allmächtigen Gottes.


*Insegnamenti di Giovanni Paolo II, vol. XXIII, 2 p.651-658.

L'Osservatore Romano 20.10.2000 p.5.

 

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