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ANSPRACHE VON BENEDIKT XVI.
AN DIE MITGLIEDER DER GERICHTSHOFES DER RÖMISCHEN ROTA
ANLÄSSLICH DER ERÖFFNUNG DES GERICHTSJAHRES

Donnerstag, 29. Januar 2009

 

Verehrte Richter, Offiziale und Mitarbeiter
des Gerichtshofes der Römischen Rota!

Zum feierlichen Beginn der richterlichen Tätigkeit eures Gerichtshofes habe ich auch dieses Jahr die Freude, dessen würdige Mitglieder zu empfangen: den hochwürdigsten Herrn Dekan, dem ich für die freundliche Grußadresse danke, das Kollegium der Prälaten-Auditoren, die Offizialen des Gerichtshofes und die Anwälte des »Studio Rotale«. Ich begrüße euch alle herzlich mit dem Ausdruck meiner Wertschätzung für die wichtigen Aufgaben, die ihr als treue Mitarbeiter des Papstes und des Heiligen Stuhls erfüllt.

Ihr erwartet zu Beginn eures Arbeitsjahres vom Papst ein Wort, das für euch bei der Erfüllung eurer heiklen Aufgaben Licht und Orientierung sein soll. Es gäbe wohl eine Vielzahl von Themen, bei denen wir uns aus diesem Anlaß aufhalten könnten, doch zwanzig Jahre nach den Ansprachen von Johannes Paul II. über die psychische Unfähigkeit in den Ehenichtigkeitsprozessen vom 5. Februar 1987 (in O.R. dt., Nr. 8, 20.2.1987, S. 10) und vom 25. Januar 1988 (in O.R. dt., Nr. 7, 12.2.1988, S. 9–11), scheint es angebracht sich zu fragen, in welchem Maße diese Ansprachen bei den kirchlichen Gerichtshöfen eine angemessene Rezeption gefunden haben. Das ist nicht der Augenblick, um Bilanz zu ziehen, aber allen steht die Tatsache eines Problems vor Augen, das nach wie vor von großer Aktualität ist. In manchen Fällen kann man leider spüren, daß die Forderung, von der mein verehrter Vorgänger sprach, nach wie vor besteht: nämlich daß die kirchliche Gemeinschaft »vor dem Ärgernis bewahrt wird, durch die übermäßige und fast automatische Zunahme der Nichtigkeitserklärungen – dann nämlich, wenn die Ehe mißlingt und man irgendeine Unreife oder psychische Schwäche der Partner zum Vorwand nimmt –, den Wert der christlichen Ehe praktisch vernichtet zu sehen« (Ansprache an die Rota Romana am 5. Februar 1987, 9; in O.R. dt., Nr. 8, 20.2.1987, S. 10).

Bei unserer heutigen Begegnung ist mir daran gelegen, die Aufmerksamkeit der gerichtlichen Mitarbeiter auf das Erfordernis zu lenken, die Fälle mit der gebührenden Tiefe und Gründlichkeit zu behandeln, wie sie vom Dienst der Wahrheit und der Liebe, der gerade der Römischen Rota eigen ist, gefordert wird. Was das Erfordernis der Verfahrensstrenge betrifft, liefern in der Tat die oben genannten Ansprachen anhand der Prinzipien der christlichen Anthropologie die grundlegenden Kriterien nicht nur für die Prüfung der psychiatrischen und psychologischen Gutachten, sondern auch für die richterliche Entscheidung der Fälle. Diesbezüglich ist es angebracht, noch an einige Unterscheidungen zu erinnern, die die unterscheidende Trennlinie vor allem zwischen »einer psychischen Reife, die das Ziel der menschlichen Entwicklung wäre«, und »der kanonischen Reife…, die hingegen der minimale Ausgangspunkt für die Gültigkeit der Ehe ist« (ebd., Nr. 6), festlegen; zweitens die Unterscheidung zwischen Unfähigkeit und Schwierigkeit, da »nur die Unfähigkeit, und nicht schon die Schwierigkeit, das Jawort zu geben und eine echte Lebens- und Liebesgemeinschaft zu verwirklichen, die Ehe nichtig macht« (ebd., Nr. 7); drittens die Unterscheidung zwischen der kirchenrechtlichen Dimension der Normalität, die sich an der vollen Sicht der Person orientiert und deshalb »auch mäßige Formen psychologischer Schwierigkeiten einschließt«, und der klinischen Dimension, die aus dem Begriff der Normalität jede Einschränkung von Reife und »jede Form der Psychopathologie« ausschließt (Ansprache an die Römische Rota, 25.1.1988, a.a.O., Nr. 5, S. 10); schließlich die Trennlinie zwischen der »minimal ausreichenden Fähigkeit, einen gültigen Ehekonsens abzugeben« und der idealisierten Fähigkeit »der vollen Reife hinsichtlich eines glücklichen Ehelebens« (ebd., Nr. 9, S. 10).

In Anbetracht der Einbeziehung der Verstandes- und Willensfähigkeiten bei der Entstehung des Ehekonsenses bestätigte Papst Johannes Paul II. in der erwähnten Ansprache vom 5. Februar 1987 noch einmal den Grundsatz, wonach eine wirkliche Unfähigkeit »nur anzunehmen ist, wenn eine schwere Form von Anomalie vorliegt, die, wie auch immer man sie definieren will, die Fähigkeit des Partners, zu verstehen und/oder zu wollen, wesentlich beeinträchtigen muß« (Ansprache an die Römische Rota, a.a.O., Nr. 7, S. 10). Diesbezüglich scheint es mir angebracht, daran zu erinnern, daß die Norm des Codex über die psychische Unfähigkeit hinsichtlich ihrer Anwendung durch die jüngste Instruktion Dignitas connubii vom 25. Januar 2005 bereichert und ergänzt worden ist. Sie verlangt nämlich für die Erfüllung des Bestehens dieser Unfähigkeit, daß bereits zum Zeitpunkt der Eheschließung eine besondere psychische Anomalie vorhanden ist (Art. 209, § 1), die den Vernunftgebrauch (Art. 209, § 2, Nr. 1; can. 1095, Nr. 1) oder die Kritik- und Wahlfähigkeit zum Fällen gewichtiger Entscheidungen, insbesondere im Hinblick auf die freie Wahl des Lebensstandes, schwerwiegend beeinträchtigt (Art. 209, § 2, Nr. 2; can. 1095, Nr. 2) oder die im Betroffenen nicht nur eine ernste Schwierigkeit, sondern auch die Unmöglichkeit hervorruft, die Aufgaben zu erfüllen, die den ehelichen Pflichten wesenhaft innewohnen (Art. 209, § 2, Nr. 3; can. 1095, Nr. 3).

Bei dieser Gelegenheit möchte ich jedoch das Thema der Unfähigkeit, eine Ehe zu schließen, von der Canon 1095 handelt, noch einmal im Licht der Beziehung zwischen der menschlichen Person und der Ehe betrachten und an einige Grundprinzipien erinnern, die die gerichtlichen Mitarbeiter beachten müssen. Es ist vor allem nötig, die Fähigkeit positiv wieder neu zu entdecken, die im Prinzip jeder Mensch besitzt, nämlich aufgrund seiner Natur als Mann oder Frau zu heiraten. Wir laufen nämlich Gefahr, in einen anthropologischen Pessimismus zu verfallen, der es im Licht der heutigen kulturellen Situation für nahezu unmöglich hält sich zu verheiraten. Abgesehen davon, daß die Situation in den verschiedenen Regionen der Welt nicht gleich ist, darf die wahre Ehekonsensunfähigkeit nicht mit den realen Schwierigkeiten verwechselt werden, in denen sich viele, besonders die jungen Menschen, befinden, die deshalb zur Ansicht gelangen, die Ehe sei normalerweise undenkbar und unpraktizierbar. Ja, die Bekräftigung der angeborenen Fähigkeit des Menschen zur Ehe ist gerade der Ausgangspunkt, um den Eheleuten zu helfen, die natürliche Wirklichkeit der Ehe und die Bedeutung zu entdecken, die sie auf der Ebene des Heils hat. Was schließlich auf dem Spiel steht ist die Wahrheit über die Ehe und über die ihr innewohnende rechtliche Natur (vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Römische Rota, 27.1.2007, in O.R. dt., Nr. 6, 9.2.2007, S. 7), was die unabdingbare Voraussetzung ist, um die geforderte Fähigkeit zur Eheschließung erfassen und beurteilen zu können.

In diesem Sinn muß die Fähigkeit mit dem in Zusammenhang gebracht werden, was die Ehe ihrem Wesen nach ist, nämlich »die innige Gemeinschaft des Lebens und der Liebe in der Ehe, vom Schöpfer begründet und mit eigenen Gesetzen geschützt« (II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes, 48), und in besonderer Weise mit den ihr innewohnenden wesentlichen Verpflichtungen, die von den Eheleuten übernommen werden müssen (Can. 1095, Nr. 3). Diese Fähigkeit wird nicht in bezug auf einen bestimmten Grad der existentiellen oder wirksamen Verwirklichung des Ehebundes durch die Erfüllung der wesentlichen Pflichten bemessen, sondern in bezug auf den wirksamen Willen jedes der Eheleute, der diese Verwirklichung schon im Augenblick der Eheschließung möglich und wirksam macht. Das Reden über die Fähigkeit oder Unfähigkeit zur Ehe hat also in dem Maße Sinn, in dem es den Akt der Eheschließung selbst betrifft, denn das vom Willen der Partner hervorgerufene Eheband stellt die juristische Wirklichkeit der biblischen Aussage, »die beiden werden ein Fleisch sein« (Gen 2,24; Mk 10,8; Eph 5,31; vgl. Can. 1061, § 1), dar, deren Gültigkeit nicht vom späteren Verhalten der Eheleute während ihres Ehelebens abhängt. Andernfalls wird in der reduktionistischen Optik, die die Wahrheit über die Ehe nicht anerkennt, die tatsächliche – auf einer Ebene rein menschlichen Wohlergehens idealisierte – Verwirklichung einer wahren Lebens- und Liebesgemeinschaft im wesentlichen nur von nebensächlichen Faktoren abhängig gemacht, nicht jedoch von der Ausübung der menschlichen Freiheit, die von der Gnade unterstützt wird. Es stimmt, daß diese Freiheit der menschlichen Natur, die »in ihren natürlichen Kräften verletzt ist« und »zur Sünde neigt« (Katechismus der Katholischen Kirche, 405), begrenzt und unvollkommen ist , aber sie ist deshalb nicht unecht und unzureichend, um jenen Akt der Selbstbestimmung der Ehepartner zu verwirklichen, den Eheschließungsakt, der die Ehe und die auf ihr gegründete Familie ins Leben ruft.

Offensichtlich idealisieren einige anthropologische »humanistische« Strömungen, die auf die Selbstverwirklichung und egozentrische Selbsttranszendenz ausgerichtet sind, den Menschen und die Ehe so sehr, daß sie schließlich die psychische Fähigkeit vieler Menschen leugnen und sie auf Elemente gründen, die den wesentlichen Erfordernissen des Ehebandes nicht entsprechen. Diesen Auffassungen gegenüber müssen die Vertreter des Kirchenrechts dem gesunden Realismus Rechnung tragen, auf den mein verehrter Vorgänger hingewiesen hat (vgl. Johannes Paul II., Ansprache an die Römische Rota, 27.1.1997, 4; in O.R. dt., Nr. 9, 28.2.1997, S. 7), weil sich die Ehefähigkeit auf die notwendige Mindestanforderung bezieht, damit die Brautleute ihr Sein als Mann und Frau hingeben können, um jenes Band zu begründen, zu dem die große Mehrheit der Menschen berufen ist. Daraus folgt, daß die Ehe-Nichtigkeitsverfahren wegen psychischer Unfähigkeit prinzipiell erfordern, daß sich der Richter der Hilfe von Sachverständigen bedient, um das Vorhandensein einer wahren Unfähigkeit festzustellen (vgl. Can. 1680; Dignitas connubii, Art. 203, § 1), die immer eine Ausnahme vom natürlichen Prinzip der notwendigen Fähigkeit des Verstehens, des Entscheidens und des Sich-Selbstschenkens darstellt, aus dem das Eheband entsteht.

Das, liebe Mitglieder des Gerichtshofs der Römischen Rota, wollte ich euch bei diesem feierlichen und mir immer willkommenen Anlaß darlegen. Während ich euch auffordere, mit hohem christlichem Gewissen in der Ausübung eures Amtes fortzufahren, dessen große Bedeutung für das Leben der Kirche auch aus den eben gemachten Ausführungen hervorgeht, wünsche ich euch, daß euch der Herr bei eurer heiklen Arbeit stets mit dem Licht seiner Gnade begleite, dessen Unterpfand der Apostolische Segen sein soll, den ich einem jeden aus tiefstem Herzen erteile.

 

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