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APOSTOLISCHE REISE VON PAPST FRANZISKUS
NACH POLEN AUS ANLASS DES 31. WELTJUGENDTAGES
 
(27.-31. JULI 2016)

HEILIGE MESSE MIT POLNISCHEN PRIESTERN, ORDENSLEUTEN UND SEMINARISTEN  

HOMILIE DES HEILIGEN VATERS

Heiligtum Johannes Paul II. - Krakau
Samstag, 30. Juli 2016

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Der Evangelienabschnitt, den wir gehört haben (vgl. Joh 20,19-31), spricht uns von einem Ort, von einem Jünger und von einem Buch.

Der Ort ist der, an dem sich die Jünger am Abend des Ostertages befanden: Von ihm wird nur gesagt, dass seine Türen verschlossen waren (vgl. V. 19). Acht Tage danach befanden sich die Jünger noch einmal in jenem Haus und die Türen waren immer noch verschlossen (vgl. V. 26). Jesus tritt ein, stellt sich in die Mitte und bringt seinen Frieden, den Heiligen Geist und die Vergebung der Sünden – in einem Wort: die Barmherzigkeit Gottes. In diesem verschlossenen Ort ertönt kraftvoll die Aufforderung, die Jesus an die Seinen richtet: » Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch « (V. 21).

Jesus sendet. Er wünscht von Anfang an, dass die Kirche im Aufbruch ist, in die Welt geht. Und er will, dass sie es so tut, wie er selbst es getan hat, wie er vom Vater in die Welt gesandt worden ist: nicht als Machtmensch, sondern » wie ein Sklave « (Phil 2,7), nicht » um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen « (Mk 10,45) und die gute Nachricht zu bringen (vgl. Lk 4,18). So sind auch die Seinen Ausgesandte, zu allen Zeiten. Der Kontrast beeindruckt: Während die Jünger aus Furcht die Türen verschlossen haben, sendet Jesus sie in die Mission. Er will, dass sie die Türen öffnen und hinausgehen, um  mit der Kraft des Heiligen Geistes die Vergebung und den Frieden Gottes zu verbreiten.

Dieser Ruf gilt auch uns. Wie könnte man darin nicht den Widerhall der großen Aufforderung des heiligen Johannes Paul II. hören: „Öffnet die Türen!“? Dennoch kann in unserem Leben als Priester und Gottgeweihte oft die Versuchung bestehen, ein wenig in uns selbst und in unsere Kreise eingeschlossen zu bleiben, aus Furcht oder aus Bequemlichkeit. Die Richtung, die Jesus angibt, ist aber eine Einbahnstraße: aus uns selbst hinausgehen. Es ist eine Reise ohne Rückfahrkarte. Es geht darum, einen Exodus aus unserem Ich zu vollziehen, das Leben für ihn zu verlieren (vgl. Mk 8,35), indem man dem Weg der Selbsthingabe folgt. Andererseits liebt Jesus nicht die nur halb gegangenen Wege, die angelehnt gelassenen Türen, die zweigleisigen Leben. Er verlangt, sich unbeschwert auf den Weg zu machen, aufzubrechen unter Verzicht auf die eigenen Sicherheiten, allein in ihm verankert.

Mit anderen Worten: Das Leben seiner engsten Jünger, die zu sein wir berufen sind, besteht aus konkreter Liebe, das heißt aus Dienst und Verfügbarkeit. Es ist ein Leben, in dem es keine verschlossenen Räume und private Besitztümer für die eigenen Annehmlichkeiten gibt – zumindest darf es sie nicht geben. Wer sich entschieden hat, das ganze Leben Jesus gleichzugestalten, wählt nicht mehr die eigenen Orte, sondern geht dorthin, wohin er gesendet wird; bereit, dem zu antworten, der ihn ruft, wählt er nicht einmal mehr die eigenen Zeiten. Das Haus, in dem er wohnt, gehört ihm nicht, denn die Kirche und die Welt sind die Freiluftbühne seiner Sendung. Sein Schatz besteht darin, den Herrn mitten in sein Leben zu stellen, ohne etwas anderes für sich zu suchen. So flieht er die Situationen, die Befriedigung schenken und ihn ins Zentrum setzen würden, er richtet sich nicht auf den wankenden Sockeln der weltlichen Mächte auf und gibt sich nicht den Bequemlichkeiten hin, die die Verkündigung des Evangeliums schwächen; er vergeudet keine Zeit damit, eine sichere und gut bezahlte Zukunft zu planen, damit er nicht in die Gefahr der Abschottung und der Finsternis gerät, eingeschlossen in die engen Wände eines Egoismus ohne Hoffnung und ohne Freude. Froh im Herrn, gibt er sich nicht mit einem mittelmäßigen Leben zufrieden, sondern ist erfüllt von dem brennenden Verlangen, Zeugnis zu geben und die anderen zu erreichen; er liebt das Wagnis und bricht auf, nicht unter dem Zwang bereits vorgezeichneter Wege, sondern offen und treu gegenüber den vom Heiligen Geist angezeigten Routen: Er mag nicht nur so dahinleben, sondern freut sich, das Evangelium zu verkünden.

An zweiter Stelle taucht im heutigen Evangelium die Figur des einzigen Jüngers auf, der mit Namen genannt wird, Thomas. In seinem Zweifel und seiner Unruhe, begreifen zu wollen, ähnelt uns dieser auch ziemlich eigensinnige Jünger ein wenig und ist uns sogar sympathisch. Ohne zu wissen, macht er uns ein großes Geschenk: Er bringt uns Gott näher, denn Gott verbirgt sich nicht vor dem, der ihn sucht. Jesus zeigt ihm seine verherrlichten Wundmale, er lässt ihn die unendliche Zärtlichkeit Gottes, die lebendigen Zeichen dafür, wie viel er aus Liebe zu den Menschen gelitten hat, mit Händen fassen.

Für uns Jünger ist es sehr wichtig, unser Menschsein mit dem Leib des Herrn in Berührung zu bringen, das heißt, vertrauensvoll und in absoluter Aufrichtigkeit das, was wir sind, restlos vor ihn zu tragen. Wie die heilige Faustina sagte, ist Jesus froh, wenn wir über alles mit ihm sprechen; unser Leben, das er ja bereits kennt, ist ihm nicht langweilig; er wartet, dass wir es mit ihm teilen, sogar den Bericht über unseren Tagesablauf (vgl. Tagebuch der Schwester Faustina, 6. September 1937). So sucht man Gott, in einem Gebet, das offen sein und nicht vergessen soll, ihm die Erbärmlichkeiten, die Mühen und die Widerstände anzuvertrauen und zu übergeben. Das Herz Jesu wird von der ehrlichen Offenheit gewonnen, von Herzen, die ihre eigenen Schwächen einzugestehen und zu beweinen wissen, im Vertrauen darauf, dass gerade dort die göttliche Barmherzigkeit handeln wird. Was verlangt Jesus von uns? Er wünscht sich wirklich geweihte Herzen, die von der Vergebung leben, die sie von ihm empfangen haben, um sie voll Mitgefühl über die Brüder und Schwestern auszugießen. Jesus sucht Herzen, die offen und weich gegenüber den Schwachen sind und niemals hart; gelehrige und ehrliche Herzen, die vor denen, die in der Kirche die Aufgabe haben, den Weg zu lenken, nicht heucheln. Der Jünger zögert nicht, sich Fragen zu stellen, er hat den Mut, im Zweifel zu leben und ihn vor den Herrn, vor die Ausbilder und vor die Vorgesetzten zu tragen, ohne Berechnung und Verheimlichung. Der treue Jünger führt eine wachsame und beständige Unterscheidung durch, da er weiß, dass das Herz jeden Tag erzogen werden muss, angefangen bei den Gefühlen, um sich vor jeder Falschheit im Verhalten und im Leben zu hüten.

Der Apostel Thomas ist am Ende seiner leidenschaftlichen Suche nicht nur dahin gelangt, an die Auferstehung zu glauben, sondern hat in Jesus alles für sein Leben gefunden, seinen Herrn; er hat zu ihm gesagt: » Mein Herr und mein Gott « (Joh 20, 28). Es wird uns gut tun, heute und jeden Tag betend diese wunderbaren Worte zu sprechen, mit denen wir ihm sagen: Du bist mein einziges Gut, der Pfad für meinen Lauf, das Herzstück meines Lebens, mein Alles.

Im letzten Vers, den wir gehört haben, ist schließlich die Rede von einem Buch: Es ist das Evangelium, in dem die vielen anderen Zeichen, die Jesus vollbracht hat, nicht aufgeschrieben sind (vgl. V. 30). Wir könnten das so verstehen, dass es nach dem großen Zeichen seiner Barmherzigkeit nicht mehr nötig war, anderes hinzuzufügen. Es gibt da aber noch eine Herausforderung: Es bleibt Raum für die Zeichen, die wir vollbringen – wir, die wir den Geist der Liebe empfangen haben und berufen sind, die Barmherzigkeit zu verbreiten. Man könnte sagen, dass das Evangelium, das lebendige Buch der Barmherzigkeit Gottes, das wieder und wieder gelesen werden muss, am Schluss noch weiße Seiten hat: Es bleibt ein offenes Buch, und wir sind berufen, es im selben Stil weiterzuschreiben, das heißt indem wir Werke der Barmherzigkeit vollbringen. Ich frage euch, liebe Brüder und Schwestern: Die Seiten im Buch eines jeden von euch – wie sind sie? Werden sie jeden  Tag beschrieben? Werden sie ein bisschen ja und ein bisschen nein beschrieben? Sind sie völlig weiß? Möge uns darin die Muttergottes helfen: Sie, die das Wort Gottes voll und ganz in ihr Leben aufgenommen hat (vgl. Lk 8,20-21), schenke uns die Gnade, lebendige Schreiber des Evangeliums zu sein. Unsere Mutter der Barmherzigkeit lehre uns, dass wir uns konkret um die Wunden Jesu in unseren bedürftigen Brüdern und Schwestern kümmern, um die nahen wie die fernen, um den Kranken wie den Migranten, denn wenn man dem Leidenden dient, ehrt man den Leib Christi. Die Jungfrau Maria helfe uns, dass wir uns ganz und gar für das Wohl der uns anvertrauten Gläubigen verausgaben und dass bei uns einer sich des anderen annimmt wie wahre Geschwister in der Gemeinschaft der Kirche, unserer heiligen Mutter.

Liebe Brüder und Schwestern, jeder von uns bewahrt in seinem Herzen eine ganz persönliche Seite des Buches der Barmherzigkeit Gottes: Es ist die Geschichte unserer Berufung, die Stimme der Liebe, die unser Leben angezogen und verwandelt hat und uns dazu geführt hat, auf sein Wort hin alles zurückzulassen und ihm zu folgen (vgl. Lk 5,11). Frischen wir heute dankbar die Erinnerung an seinen Ruf wieder auf – an diesen Ruf, der stärker ist als aller Widerstand und alle Mühe. Wenn wir nun mit der Eucharistiefeier, der Mitte unseres Lebens, fortfahren, wollen wir dem Herrn danken, dass er mit seiner Barmherzigkeit durch unsere verschlossenen Türen eingetreten ist; dass er uns wie Thomas beim Namen gerufen hat und dass er uns die Gnade schenkt, sein Evangelium der Liebe weiterzuschreiben.

 



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