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Schreiben von Papst Franziskus
an Kardinal Peter K. A. Turkson
anlässlich des Internationalen Kongresses
»Von Populorum progressio zu Laudato si’«

 

An den verehrten Bruder
Herrn Kardinal Peter K. A. Turkson,
Präfekt des Dikasteriums für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen

 

In diesen Tagen haben sich die Vertreter verschiedener Gewerkschaftsorganisationen und Arbeiterbewegungen in Rom versammelt, um über das Thema »Von Populorum progressio zu Laudato si’: Die Arbeit und die Arbeiterbewegung im Mittelpunkt der ganzheitlichen, nachhaltigen und solidarischen Entwicklung des Menschen« nachzudenken und zu diskutieren. Ich danke Ihnen, Eminenz, sowie den Mitarbeitern und sende allen meinen herzlichen Gruß.

Der selige Paul VI. sagt in seiner Enzyklika Populorum progressio: »Entwicklung ist nicht einfach gleichbedeutend mit wirtschaftlichem Wachstum. Wahre Entwicklung muss umfassend sein«, also den ganzen Menschen und auch alle Menschen und Völker fördern.1 »Die Person entfaltet sich in der Arbeit«2, daher hat die Soziallehre der Kirche bei verschiedenen Gelegenheiten hervorgehoben, dass dies nicht eine Frage von vielen, sondern vielmehr »der wesentliche Schlüssel« der ganzen sozialen Frage ist.3 Denn die Arbeit »beeinflusst nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die kulturelle und moralische Entwicklung der Personen, der Familie, der Gesellschaft«.4

Als Grundlage für das Gedeihen des Menschen ist die Arbeit ein Schlüssel für die geistliche Entwicklung. Der christlichen Überlieferung zufolge ist sie mehr als ein reines Tun; sie ist vor allem eine Sendung. Wir arbeiten mit dem Schöpfungswerk Gottes zusammen, wenn wir durch unser Handeln die Schöpfung bebauen und hüten (vgl. Gen 2,15)5; im Geiste Jesu haben wir teil an seiner Heilssendung, wenn wir durch unsere Arbeit für den Unterhalt unserer Familien sorgen und auf die Nöte unseres Nächsten antworten. Jesus, der »den größten Teil seiner irdischen Lebensjahre der körperlichen Arbeit in der Werkstatt eines Zimmermanns gewidmet hat«6 und der sich in seinem öffentlichen Wirken dafür eingesetzt hat, Menschen von Krankheit, Leid und auch vom Tod zu befreien7, lädt uns ein, durch die Arbeit seinen Spuren zu folgen. Auf diese Weise ist »jeder Arbeiter […] die Hand Christi, die seine Schöpfung und seine guten Werke fortsetzt«.8

Die Arbeit ist nicht nur wesentlich für das Gedeihen der Person, sondern sie ist auch ein Schlüssel für die soziale Entwicklung, »ein Arbeiten mit den anderen und ein Arbeiten für die anderen«9, und die Frucht dieses Handelns bietet »Gelegenheiten zu Austausch, Beziehung und Begegnung«.10 Täglich tragen Millionen von Menschen durch ihre manuellen oder intellektuellen Tätigkeiten zur Entwicklung bei, in großen Städten oder auf dem Land, mit anspruchsvollen oder einfachen Aufgaben. Alle sind Ausdruck einer konkreten Liebe zur Förderung des Gemeinwohls, einer gesellschaftlichen Liebe.11

Die Arbeit darf weder als Ware noch als reines Mittel in der Produktionskette aus Gütern und Dienstleistungen verstanden werden.12 Vielmehr hat sie, da sie für die Entwicklung notwendig ist, Vorrang gegenüber jedem anderen Produktionsfaktor, einschließlich des Kapitals.13 Daher kommt der ethische Imperativ, »die Arbeitsplätze zu verteidigen«14, dem Wirtschaftswachstum entsprechend neue zu schaffen15, und ebenso notwendig ist es, die Würde der Arbeit selbst zu gewährleisten.16

Dennoch darf man, wie Paul VI. gesagt hat, die »Mystik« der Arbeit nicht übertreiben. Der Mensch »ist nicht nur Arbeit«; es gibt andere menschliche Bedürfnisse, die wir pflegen und berücksichtigen müssen, wie die Familie, die Freunde und die Ruhezeit.17 Es ist daher wichtig, sich daran zu erinnern, dass jede Arbeit im Dienst des Menschen stehen muss und nicht der Mensch im Dienst der Arbeit18, und das setzt voraus, dass wir jene Strukturen in Frage stellen müssen, die Menschen, Familien, die Gesellschaft und unsere Mutter Erde ausbeuten.

Wenn das Modell der wirtschaftlichen Entwicklung nur auf dem materiellen Aspekt des Menschen gründet, wenn es nur einigen zugutekommt oder wenn es die Umwelt schädigt, dann ruft es eine Klage sowohl von Seiten der Armen als auch der Erde hervor, die »von uns einen Kurswechsel verlangt«19. Um nachhaltig zu sein, muss dieser Kurswechsel den Menschen und die Arbeit in den Mittelpunkt der Entwicklung stellen, aber das Problem der Arbeit mit dem der Umwelt verbinden. Alles ist miteinander verbunden, und wir müssen ganzheitlich antworten.20

Ein wertvoller Beitrag zu dieser ganzheitlichen Antwort von Seiten der Arbeiter ist es, der Welt das zu zeigen, was ihr gut kennt: die Verbindung zwischen den »drei T: tierra, techo y trabajo [Land, Obdach und Arbeit]«.21 Wir wollen kein System wirtschaftlicher Entwicklung, dass die Zahl der Arbeitslosen, der Obdachlosen oder der Menschen ohne Land erhöht. Die Früchte der Erde und der Arbeit müssen allen zugutekommen22 und müssen »in einem billigen Verhältnis allen zustattenkommen«.23 Dieses Thema erhält besondere Bedeutung in Bezug auf den Landbesitz, sowohl in den ländlichen als auch in den städtischen Gebieten, und auf die rechtlichen Normen, die den Zugang zu ihm garantieren.24 Und in diesem Zusammenhang ist das Kriterium für Gerechtigkeit schlechthin die allgemeine Bestimmung der Güter, und das »allgemeine Anrecht« auf ihren Gebrauch ist das »Grundprinzip der ganzen sozialethischen Ordnung«.25

Es ist angebracht, dies heute in Erinnerung zu rufen, während wir uns anschicken, den 70. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu feiern, und auch zu einem Zeitpunkt, an dem die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte mehr Beachtung finden müssen. Die Förderung und Verteidigung dieser Rechte darf jedoch nicht auf Kosten der Erde und der zukünftigen Generationen umgesetzt werden. Die gegenseitige Abhängigkeit von Arbeit und Umwelt verpflichtet uns, die Formen der Beschäftigung, die wir in Zukunft fördern wollen, sowie jene, die ersetzt oder an einen anderen Standort versetzt werden müssen – wie zum Beispiel die Arbeiten der Industrie umweltschädlicher fossiler Brennstoffe – neu zu überdenken. Eine Umstellung der gegenwärtigen Kraftstoffindustrie auf eine stärker erneuerbare, ist unvermeidlich, um unsere Mutter Erde zu schützen. Es ist jedoch ungerecht, wenn diese Umstellung mit der Arbeit und dem Zuhause der Armen bezahlt wird. Anders gesagt: Die Kosten der Energiegewinnung aus der Erde, dem allgemeinen universalen Gut, dürfen nicht auf die Arbeiter und ihre Familien zurückfallen. Die Gewerkschaften und Bewegungen, die die Verbindung zwischen Arbeit, Haus und Land kennen, haben dazu einen großen Beitrag zu leisten, und sie müssen ihn leisten.

Ein weiterer wichtiger Beitrag der Arbeit für die nachhaltige Entwicklung ist die Hervorhebung einer dreifachen Verbindung, ein zweites Zusammenspiel von drei »T«: diesmal »trabajo, tiempo y tecnología« [Arbeit, Zeit und Technologie]. Was die Zeit betrifft, so wissen wir, dass die »ständige Beschleunigung in den Veränderungen« und die »Intensivierung der Lebens- und Arbeitsrhythmen«, die von einigen als »rapidación« bezeichnet wird, weder die nachhaltige Entwicklung noch ihre Qualität fördern.26 Wir wissen auch, dass die Technologie, die uns viel Wohlergehen und viele Möglichkeiten bringt, die nachhaltige Entwicklung behindern kann, wenn sie mit einem Paradigma von Macht, Herrschaft und Manipulierung einhergeht.27

Im gegenwärtigen Kontext, der als Vierte Industrielle Revolution bekannt und von eben dieser »rapidación« sowie von hochentwickelter digitaler Technologie, von Robotertechnik und von künstlicher Intelligenz geprägt ist28, braucht die Welt Stimmen wie die eure. Die Arbeiter haben in ihrem Kampf um einen gerechten Arbeitstag gelernt, sich einer utilitaristischen, kurzsichtigen und manipulativen Denkweise entgegenzustellen. Für diese Denkweise ist es nicht wichtig, ob es sozialen Verfall und Umweltschäden gibt; ist es nicht wichtig, was man benutzt und was man wegwirft; ist es nicht wichtig, ob es Zwangsarbeit von Kindern gibt oder man den Fluss einer Stadt verseucht. Wichtig ist nur der unmittelbare Gewinn. Alles wird in Funktion des Götzen Geld gerechtfertigt.29 Da viele von euch in der Vergangenheit dazu beigetragen haben, diese Krankheit zu bekämpfen, befinden sie sich heute in einer guten Position, um sie in der Zukunft zu korrigieren. Ich bitte euch, diese schwierige Thematik aufzugreifen und uns zu zeigen, wie es eurer prophetischen und schöpferischen Sendung entspricht30, dass eine Kultur der Begegnung und der Bewahrung möglich ist. Heute steht nicht mehr nur die Würde des Beschäftigten auf dem Spiel, sondern die Würde der Arbeit aller und des Hauses aller, unserer Mutter Erde.

Daher und wie ich in der Enzyklika Laudato si‘ gesagt habe, brauchen wir einen aufrichtigen und tiefen Dialog, um die Idee der Arbeit und die Entwicklungsroute neu zu definieren.31 Wir dürfen jedoch nicht naiv sein und denken, dass der Dialog automatisch und ohne Konflikte entsteht. Man braucht Menschen, die unermüdlich arbeiten, um auf allen Ebenen Dialogprozesse in Gang setzen: auf der Ebene des Unternehmens, der Gewerkschaft, der Bewegung; auf der Ebene des Stadtteils, auf städtischer, regionaler, nationaler und globaler Ebene. In diesem Dialog über die Entwicklung sind alle Stimmen und Ansichten notwendig, vor allem aber die Stimmen, die am wenigsten gehört werden, die der Randgebiete. Ich weiß um die Bemühungen vieler Menschen, diese Stimmen an den Orten zu Gehör zu bringen, an denen Entscheidungen über die Arbeit getroffen werden. Euch bitte ich, diese edle Verpflichtung zu übernehmen.

Die Erfahrung lehrt uns: Damit ein Dialog fruchtbar ist, muss man von dem ausgehen, was wir gemeinsam haben. Um über die Entwicklung zu sprechen, ist es gut, sich an das zu erinnern, was wir als Menschen gemeinsam haben: unseren Ursprung, die Zugehörigkeit und die Zukunft.32 Auf dieser Grundlage können wir die weltweite Solidarität aller Völker erneuern33, einschließlich der Solidarität mit den Völkern von morgen. Außerdem können wir den Weg finden, der uns aus einer Markt- und Finanzwirtschaft herausführt, die der Arbeit nicht den Wert gibt, der ihr zusteht, und sie auf eine andere ausrichten, in der die menschliche Tätigkeit im Mittelpunkt steht.34

Die Gewerkschaften und Arbeiterbewegungen müssen aus Berufung Experten in Solidarität sein. Um jedoch zur solidarischen Entwicklung beizutragen bitte ich euch, euch vor drei Versuchungen zu hüten. Die erste ist der kollektivistische Individualismus, also nur die Interessen derer zu schützen, die ihr vertretet, und den Rest der Armen, Ausgegrenzten und vom System Ausgeschlossenen zu übersehen. Man muss in eine Solidarität investieren, die über die Mauern eurer Verbände hinausgeht, die die Rechte der Arbeiter, vor allem aber jener schützt, deren Rechte nicht einmal anerkannt sind. »Gewerkschaft« [ital. »Sindacato«, vgl. das dt. »Syndikat«] ist ein schönes Wort, das aus dem Griechischen stammt, von »dikein« (Gerechtigkeit schaffen) und »syn« (gemeinsam).35  Bitte, schafft gemeinsam Gerechtigkeit, aber in Solidarität mit allen Ausgegrenzten.

Meine zweite Bitte ist, euch vor dem gesellschaftlichen Krebs der Korruption zu hüten.36 Wie bei bestimmten Gelegenheiten »die Politik selbst für den Verlust ihres Ansehens verantwortlich« ist37, so geschieht dasselbe mit den Gewerkschaften. Die Korruption derer, die sich als »Gewerkschafter« bezeichnen, mit den Unternehmern Absprachen treffen, sich nicht um die Arbeiter kümmern und Tausende von Kollegen arbeitslos machen; das ist eine Plage, die die Beziehungen unterhöhlt und viele Leben und viele Familien zerstört. Lasst nicht zu, dass unrechte Interessen eure Sendung zerstören, die so notwendig ist in der Zeit, in der wir leben. Die Welt und die ganze Schöpfung warten hoffnungsvoll darauf, von der Korruption befreit zu werden (vgl. Röm 8,18-22). Seid Träger der Solidarität und der Hoffnung für alle. Lasst euch nicht korrumpieren!

Die dritte Bitte ist, nicht eure Aufgabe zu vergessen, die Gewissen zur Solidarität, zur Achtung und zur Fürsorge zu erziehen. Das Bewusstsein um die Krise der Arbeit und der Ökologie muss in neue Lebensstile und öffentliche politische Maßnahmen übertragen werden. Um diese Lebensstile ins Leben zu rufen ist es notwendig, dass Einrichtungen wie die eure gesellschaftliche Tugenden pflegen, die das Gedeihen einer neuen globalen Solidarität fördern, die es uns gestattet, dem Individualismus und dem Konsumismus zu entfliehen, und die uns anspornen, die Mythen eines unbegrenzten materiellen Fortschritts und eines Marktes ohne gerechte Regeln in Frage zu stellen.38

Ich hoffe, dass dieser Kongress ein Zusammenwirken hervorbringt, das in der Lage ist, konkrete Handlungsansätze aufzuzeigen, vom Gesichtspunkt der Arbeiter her – Wege, die zu einer menschlichen, ganzheitlichen, nachhaltigen und solidarischen Entwicklung führen.

Ich danke erneut Ihnen, Herr Kardinal, sowie allen, die teilgenommen und ihren Beitrag geleistet haben, und erteile allen meinen Segen.

Aus dem Vatikan, am  23. November 2017

 

Franziskus


 
1Nr. 14.

2 Ansprache von Papst Franziskus an die Delegierten der Italienischen Gewerkschaft (CISL), 28. Juni 2017.

3 Johannes Paul II., Enzyklika Laborem exercens, 14.9.1981.

4 Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre der Kirche, Nr. 269.

5 Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes, 34; Johannes Paul II., Enzyklika Laborem exercens (1981), 25.

6 Enzyklika Laborem exercens, 6.

7 Vgl. Kompendium der Soziallehre der Kirche, Nr. 261.

8 Ambrosius, De obitu Valentiniani consolatio, 62; zitiert nach Kompendium der Soziallehre der Kirche, Nr. 265.

9 Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus, Nr. 31.

10 Kompendium der Soziallehre der Kirche, Nr. 273; vgl. Enzyklika Laudato si`‘, 125.

11Ansprache an die Delegierten der italienischen Gewerkschaft (CISL), 28. Juni 2017; vgl. Enzyklika Laudato si‘, 231.

12 Vgl. Enzyklika Laborem exercens, 7.

13 Vgl. Kompendium der Soziallehre der Kirche, Nr. 276.

14 Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 203.

15   Vgl. ebd., 204.

16 Vgl. ebd., 205.

17 Vgl. Ansprache an die Delegierten der italienischen Gewerkschaft (CISL), 28. Juni 2017.

18 Vgl. Kompendium der Soziallehre der Kirche, Nr. 272.

19 Enzyklika Laudato si‘, 53.

20 Vgl. ebd., 16, 91, 117, 138, 240.

21 Botschaft von Papst Franziskus aus Anlass der Begegnung der Volksbewegungen in Modesto, Kalifornien, 10. Februar 2017.

22 Vgl. Enzyklika Laudato si‘, 93.

23 Pastorale Konstitution Gaudium et spes, 69.

24 Vgl. Kompendium der Soziallehre der Kirche, Nr. 283.

25 Enzyklika Laudato si‘, 93.

26 Ebd., 18.

27 Ebd., 102-206.

28 Vgl. J. Manyika, »Technology, jobs, and the future of work«, McKinsey Global Institute 2016.

29 Es handelt sich um einen gefährlichen »praktischen Relativismus« (Enzyklika Laudato si‘, 122).

30 Vgl. Ansprache an die Delegierten der italienischen Gewerkschaft (CISL), 28. Juni 2017.

31 Vgl. ebd., 3; 14.

32 Vgl. Enzyklika Laudato si‘, 202.

33 Vgl. ebd., 14, 58, 159, 172, 227.

34 Vgl. Ansprache an die Delegierten der italienischen Gewerkschaft (CISL), 28. Juni 2017.

35 Vgl. ebd.

36 Vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 60.

37 Enzyklika Laudato si‘, 197.

38 Vgl. ebd., 209-215.

 

 

 



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