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  SCHREIBEN VON JOHANNES PAUL II.
AN DEN PÄPSTLICHEN SONDERGESANDTEN ZU DEN FEIERLICHKEITEN
DER "SOZIALEN WOCHEN IN FRANKREICH" (LILLE, 23.-26. SEPTEMBER 2004)

 

An Herrn Kardinal ROGER ETCHEGARAY
Sondergesandter zu den "Sozialen Wochen in Frankreich"

1. Vor genau hundert Jahren fanden in einer schwierigen und wechselvollen politischen Situation die ersten »Sozialen Wochen in Frankreich« statt mit dem Ziel, den Christen und allgemein den Menschen guten Willens die Möglichkeit zum Nachdenken über soziale Fragestellungen zu geben unter Beachtung der grundlegenden menschlichen und geistlichen Werte. Im gegenwärtigen Kontext, und das ist besonders interessant, befassen sich die Sozialen Wochen während ihrer 79. Versammlung in Lille, der Kulturhauptstadt Europas 2004, vom 23. bis 26. September mit dem Thema »Europa: aktiver Bestandteil beim Aufbau einer Gesellschaft, die zu erfinden ist«. Ich danke Gott für den Beitrag der Christen zu den Aussagen über die komplexen Probleme der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Gegebenheiten, die auf eine Erneuerung unserer Gesellschaft zielen. Sie lassen sich von der Soziallehre der Kirche inspirieren und beteiligen sich an der Gewissensbildung der Bürger, die – jeder nach seinen Fähigkeiten – aufgerufen sind, sich ins Gemeinschaftsleben einzubringen.

2. Das hundertjährige Bestehen der »Sozialen Wochen« ist eine Gelegenheit zur Wiederentdeckung der langen Tradition der Soziallehre der Kirche und der vielen Heiligen, die seit den ersten (christlichen) Jahrhunderten ihre Spur auf dem europäischen Kontinent hinterlassen haben, darunter Benedikt, Kyrill und Methodius, Bonifatius, Thomas More, die Märtyrer von Rochefort, Edith Stein, Maximilian Kolbe, Birgitta von Schweden. Sie alle haben gezeigt, daß das Evangelium und die christlichen Werte für das Leben von Personen und Völkern das passende Terrain sind, aber auch für den Aufbau einer Gesellschaft. Das Evangelium und die Soziallehre der Kirche bieten unserem Kontinent heute eine Neuorientierung an. Sie sagen zwar nicht, wie man konkret vorgehen soll, denn dies hängt von der Freiheit und Verantwortung der Völker und ihrer Regierenden ab, aber sie zeigen die unerläßlichen Grundlagen des sozialen Gefüges, damit die Personen und Völker stets geachtet und die Freiheit und Würde jedes Menschen gefördert werden.

Der Rückblick auf die Vergangenheit unseres Kontinents regt uns an, unermüdlich nach neuen Wegen der Zusammenarbeit, der Brüderlichkeit und des Friedens zu suchen. In diesem Jahr wird der 60. Jahrestag der Befreiung begangen. Dabei denkt man unwillkürlich an den Skandal der Kriege, dieser brudermörderischen Auseinandersetzungen, und man setzt sich für eine Annährung zwischen den Nationen ein, damit jeder Mensch sagen kann: »Nie wieder Krieg. Jeder Mensch ist mein Bruder.« Die vergangenen 60 Jahre geben Anlaß zur Hoffnung, denn sie waren geprägt von zahlreichen Gesten der Versöhnung und von dem Wunsch, aus diesem Erdteil ein Europa von Geschwistern zu machen. Dieser Wunsch wurde vor allem von christlichen Staatsmännern vorgebracht, deren Namen noch in unser aller Erinnerung sind, wie z.B. Robert Schuman, Konrad Adenauer und Alcide de Gasperi.

3. Ein Europa vom Atlantik bis zum Ural eröffnet neue Aussichten für die Völker, die lange unter dem kommunistischen Joch leben mußten. Die beiden Weltkriege haben Spaltungen und Gegensätze verursacht, die nun von der europäischen Entwicklung Schritt für Schritt überwunden werden, um ein Europa der Völker zu schaffen, ein Europa der Solidarität, letztlich ein Europa für das Wohlergehen und das Glück aller seiner Bürger. Sein Beispiel kann außerdem den Weg ebnen für weitere Formen der zwischenstaatlichen Integration in anderen Erdteilen, beispielsweise in Afrika. Eine wahre Integration muß die nationalen Kulturen und Identitäten erhalten, wenn sie ihre ganze Reichhaltigkeit bewahren will; sie können Bestandteil des gemeinsamen Erbes werden und zum Wachstum des gesamten Kontinents beitragen. Bei dieser Gelegenheit begrüße ich die Teilnahme vieler ausländischer Delegationen an den Sozialen Wochen. Dies unterstreicht folgende Tatsache: »Ein friedliches Zusammenleben und ein Austausch der jeweiligen inneren Reichtümer wird den Aufbau eines Europas möglich machen, das gemeinsames Haus zu sein versteht, in das jeder aufgenommen werden kann, in dem keiner diskriminiert wird und alle als Mitglieder einer einzigen großen Familie behandelt werden und verantwortungsvoll leben« (Ecclesia in Europa, 102). Eine solche Aufgeschlossenheit zwischen Ost und West veranlaßt die Europäer auch zu einer Intensivierung ihrer Beziehungen der Zusammenarbeit zwischen Nord und Süd, um verschiedene Plagen – wie Elend, Pandemien und Konflikte aller Art – einzudämmen. Angesichts dieser Dringlichkeiten sind wir alle zur Beteiligung an einer echten, dauerhaften Entwicklung aufgerufen. Diese vollzieht sich durch internationale, auf Partnerschaft und Solidarität gründende Zusammenarbeit, die sich darum bemüht, die Güter der Erde zu bewahren und durch gerechtes, faires Teilen allen Völkern Anteil an den Ressourcen unseres Planeten zu geben. 

4. In diesem Geist stellt die Präsenz der Christen im Sozialleben ein echtes Zeugnis dar. Durch ihre Art, die unterschiedlichen sozialen Phänomene zu erfassen, zu analysieren und Lösungen vorzuschlagen, stellen sie den Sinn des Menschenlebens und die Hoffnung, die sie von Christus erhalten haben, in den Vordergrund, und sie erinnern an den hohen Rang der christlichen, sittlichen und moralischen Werte, in denen ihr Dasein und Handeln wurzelt. Besondere Aufmerksamkeit für die Jugendlichen ist sehr wichtig. Man muß ihnen nicht nur Wissen, sondern auch Werte und Hoffnung vermitteln, um bestimmten Verhaltensweisen entgegenzutreten, die heute bei ihnen festzustellen sind und die ständig weiter zunehmen, wie Selbstmord und Drogenkonsum. Die Jugend erwartet von den Erwachsenen eine Hilfe, um zuversichtlich in die Zukunft zu blicken, und das Ziel ist, ihr ein geistiges und moralisches Erbe hinterlassen zu können (vgl. Ecclesia in Europa, 14).

5. Das Engagement der Christen in der Politik ist bedeutsam. Ich lade sie ein, sich ihrem Auftrag in diesem Bereich nicht zu entziehen und stets nach einem Zusammenspiel zwischen Evangelium, göttlicher und apostolischer Überlieferung, Lehramt der Kirche und den ihnen obliegenden Entscheidungen zu trachten. Dies gehört zur Berufung der Christen, ihren Brüdern und Schwestern selbstlos zu dienen für »eine immer menschenwürdigere Gesellschaft« (Ecclesia in Europa, 105), vor allem im Hinblick auf eine immer engere internationale Kooperation, in der Partnerschaft und Solidarität den Vorrang haben gegenüber Eigeninteresse und Gewinnsucht.

6. Eure Überlegungen mögen dazu beitragen, den zahlreichen Herausforderungen, die mit dem Aufbau Europas einhergehen, angemessen zu begegnen und auf internationale Beziehungen hinzuwirken, in denen der Mensch seinen vollen Platz einnimmt! Ich empfehle euch der Fürsprache der Jungfrau Maria, »Notre Dame de la Treille«, und aller Heiligen, die Europa auf ihre Weise gestaltet haben, und erteile Ihnen, Herr Kardinal, sowie den Organisatoren und Teilnehmern an dieser Versammlung der »Sozialen Wochen in Frankreich« einen besonderen Apostolischen Segen.

Aus Castelgandolfo, 20. September 2004

JOHANNES PAUL II.

 



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