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PASTORALBESUCH IN ÖSTERREICH

ANSPRACHE VON JOHANNES PAUL II.
AN DIE VERTRETER DER JÜDISCHEN GEMEINDE

Wien - Freitag, 24. Juni 1988

 

 

Sehr geehrter Präsident der Israelitischen Kultusgemeinden,
sehr verehrter Herr Oberrabiner, geehrte Anwesende!

1. Beim Propheten Jeremia lesen wir: ”Ein Geschrei ist in Rama zu hören, bitteres Klagen und Weinen, Rahel weint um ihre Kinder..., denn sie sind dahin“.

Eine solche Klage ist auch der Grundton der Grußworte, die Sie soeben im Namen der jüdischen Gemeinden in Österreich an mich gerichtet haben. Sie hat mich tief bewegt. Ich erwidere Ihren Gruß mit Liebe und Wertschätzung und versichere Ihnen, daß diese Liebe auch die bewußte Kenntnis all dessen einschließt, was Sie schmerzt. Vor fünfzig Jahren brannten in dieser Stadt die Synagogen. Tausende von Menschen wurden von hier in die Vernichtung geschickt, unzählige zur Flucht getrieben. Jene unfaßbaren Schmerzen, Leiden und Tränen stehen mir vor Augen und sind meiner Seele tief eingeprägt. In der Tat, nur wen man kennt, den kann man lieben.

Es freut mich, daß es bei meinem Pastoralbesuch auch zu dieser Begegnung mit Ihnen gekommen ist. Möge sie ein Zeichen gegenseitiger Hochachtung sein und die Bereitschaft bekunden, sich noch besser kennenzulernen, tiefgreifende Ängste abzubauen und einander Vertrauen weckende Erfahrungen zu schenken.

”Shalom!“, ”Friede!“ – Dieser religiöse Gruß ist eine Einladung zum Frieden. Er ist von zentraler Bedeutung bei unserer Begegnung am heutigen Morgen, vor dem Shabbath; von zentraler Bedeutung ist er auch in christlicher Sicht nach dem Friedensgruß des auferstandenen Herrn an die Apostel im Abendmahlssaal. Der Friede schließt das Angebot und die Möglichkeit der Vergebung und der Barmherzigkeit ein, die herausragende Eigenschaften unseres Gottes, des Gottes des Bundes, sind. Sie erfahren und feiern im Glauben diese Gewißheit, wenn Sie alljährlich den großen Sühnetag, den Yôm Kippûr, festlich begehen. Wir Christen betrachten dieses Geheimnis im Herzen Christi, der – von unseren Sünden und denen der ganzen Welt durchbohrt – für uns am Kreuze stirbt. Dies ist höchste Solidarität und Brüderlichkeit aus der Kraft der Gnade. Der Haß ist ausgelöscht und geschwunden, es erneuert sich der Bund der Liebe. Dies ist der Bund, den die Kirche im Glauben lebt; in ihm erfährt sie ihre tiefe und geheimnisvolle Verbundenheit in Liebe und Glaube mit dem jüdischen Volk. Kein geschichtliches Ereignis, wie schmerzlich es auch sein mag. kann so mächtig sein, daß es dieser Wirklichkeit zu widersprechen vermag, die zum Plan Gottes für unser Heil und unsere brüderliche Versöhnung gehört.

2. Das Verhältnis zwischen Juden und Christen hat sich seit dem II. Vatikanischen Konzil und dessen feierliche Erklärung ”Nostra Aetate“ wesentlich verändert und verbessert. Seitdem besteht ein offizieller Dialog, dessen eigentliche und zentrale Dimension ”die Begegnung zwischen den heutigen christlichen Kirchen und dem heutigen Volk des mit Mose geschlossenen Bundes“ sein soll, wie ich es bei einer früheren Gelegenheit formuliert habe.  Inzwischen sind weitere Schritte zur Versöhnung getan worden. Auch mein Besuch in der römische Synagoge sollte ein Zeichen dafür sein.

Dennoch lastet weiter auf Ihnen und auch auf uns die Erinnerung an die Schoah, den millionenfachen Mord an den Juden in den Vernichtungslagern. Es wäre freilich ungerecht und unwahr, diese unsäglichen Verbrechen dem Christentum anzulasten. Vielmehr zeigt sich hier das grauenvolle Antlitz einer Welt ohne und sogar gegen Gott, deren Vernichtungsabsichten sich erklärtermaßen gegen das jüdische Volk richtete, aber auch gegen den Glauben derer, die in dem Juden Jesus von Nazaret den Erlöser der Welt verehren. Einzelne feierliche Proteste und Appelle ließen solche Absichten nur noch fanatischer werden.

Eine angemessene Betrachtung der Leiden und des Martyriums des jüdischen Volkes kann nicht ohne innersten Bezug auf die Glaubenserfahrung erfolgen, die seine Geschichte kennzeichnet, angefangen vom Glauben Abrahams, beim Auszug aus der Knechtschaft Ägyptens, beim Bundesschluß am Sinai. Es ist ein Weg in Glaube und Gehorsam als Antwort auf den liebenden Ruf Gottes. Wie ich im vergangenen Jahr vor Vertretern der jüdischen Gemeinde in Warschau gesagt habe, kann aus diesen grausamen Leiden eine um so tiefere Hoffnung erwachsen, ein rettender Warnruf für die ganze Menschheit sich erheben. Sich der Schoah erinnern heißt hoffen und sich dafür einsetzen, daß sie sich niemals mehr wiederholt.

Wir können gegenüber einem so unermeßlichen Leid nicht unempfindlich bleiben; aber der Glaube sagt uns, daß Gott die Verfolgten nicht verläßt, sondern sich ihnen vielmehr offenbart und durch sie jedes Volk auf dem Weg zur Erlösung erleuchtet. Dies ist die Lehre der Heiligen Schrift, dies ist uns in den Propheten, in Jesaja und in Jeremia, offenbart. In diesem Glauben, dem gemeinsamen Erbe von Juden und Christen, hat die Geschichte Europas ihre Wurzeln. Für uns Christen erhält jeder menschliche Schmerz seinen letzten Sinn im Kreuze Jesu Christi. Dies aber hindert uns nicht, es drängt uns vielmehr dazu, solidarisch mitzufühlen mit den tiefen Wunden, die durch die Verfolgungen dem jüdischen Volk, besonders in diesem Jahrhundert aufgrund des modernen Antisemitismus, zugefügt worden sind.

3. Der Prozeß der vollen Versöhnung zwischen Juden und Christen muß auf allen Ebenen der Beziehungen zwischen unseren Gemeinschaften mit aller Kraft weitergeführt werden. Zusammenarbeit und gemeinsame Studien sollen dazu dienen, die Bedeutung der Schoah tiefer zu erforschen. Aufzuspüren und möglichst zu beseitigen sind die Ursachen, die für den Antisemitismus verantwortlich sind oder noch allgemeiner zu den sogenannten ”Religionskriegen“ führen. Nach dem Vorbild dessen, was auf dem Weg der Ökumene bisher bereits geschehen ist, vertraue ich darauf, daß es möglich sein wird, über die Rivalitäten, die Radikalisierungen und Konflikte der Vergangenheit offen miteinander zu sprechen. Wir müssen versuchen, sie auch in ihren geschichtlichen Bedingungen zu erkennen und sie durch gemeinsame Bemühungen um Frieden, um ein kohärentes Glaubenszeugnis und die Förderung der sittlichen Werte, die die Personen und Völker bestimmen sollen, zu überwinden.

Schon in der Vergangenheit hat es nicht an klaren und nachdrücklichen Warnungen gegen jede Art religiöser Diskriminierung gefehlt. Ich erinnere hier vor allem an die ausdrückliche Verurteilung des Antisemitismus durch ein Dekret des Heiligen Stuhls von 1928, wo es heißt, daß der Heilige Stuhl auf das schärfste den Haß gegen das jüdische Volk verurteilt, ”jenen Haß nämlich, den man heute gewöhnlich mit dem Wort ”Antisemitismus“ zu bezeichnen pflegt“. Die gleiche Verurteilung erfolgte auch durch Papst Pius XI. im Jahre 1938. Unter den vielfältigen heutigen Initiativen, die im Geist des Konzils für den jüdisch-christlichen Dialog entstehen, möchte ich auf das Zentrum für Information, Erziehung, Begegnung und Gebet hinweisen, das in Polen errichtet wird. Es ist dazu bestimmt, die Schoah sowie das Martyrium des polnischen Volkes und der anderen europäischen Völker während der Zeit des Nationalsozialismus zu erforschen und sich mit ihnen geistig auseinanderzusetzen. Es ist zu wünschen, daß es reiche Früchte hervorbringt und auch für andere Nationen als Vorbild dienen kann. Initiativen dieser Art werden auch das zivile Zusammenleben aller sozialen Gruppen befruchten und sie anregen, sich in gegenseitiger Achtung für die Schwachen, Hilfsbedürftigen und Ausgestoßenen einzusetzen, Feindseligkeiten und Vorurteile zu überwinden sowie die Menschenrechte, besonders das Recht auf Religionsfreiheit für jede Person und Gemeinschaft zu verteidigen.

An diesem umfangreichen Aktionsprogramm, zu dem wir Juden, Christen und alle Menschen guten Willens einladen, sind auch schon seit vielen Jahren die Katholiken in Österreich beteiligt, Bischöfe und Gläubige, sowie verschiedene Vereinigungen. Erst in jüngster Zeit haben fruchtbare Begegnungen mit jüdischen Persönlichkeiten in Wien stattgefunden.

4. Die Eintracht und Einheit der verschiedenen Gruppen einer Nation bilden auch eine solide Voraussetzung für einen wirksamen Beitrag zur Förderung von Frieden und Verständigung unter den Völkern, wie es die Geschichte Österreichs selbst in den letzten Jahrzehnten gezeigt hat. Die Sache des Friedens liegt uns allen am Herzen, besonders im Heiligen Land, in Israel, im Libanon, im Mittleren Osten. Dies sind Regionen, mit denen uns tiefe biblische, geschichtliche, religiöse und kulturelle Wurzeln verbinden. Der Friede ist nach der Lehre der Propheten Israels eine Frucht der Gerechtigkeit und des Rechtes und zugleich ein unverdientes Geschenk der messianischen Zeit. Deshalb muß auch hier jegliche Gewalt beseitigt werden, die alte Irrtümer wiederholt und dadurch Haß, Fanatismus und religiösen Integralismus hervorruft, welche Feinde menschlicher Eintracht sind. Jeder prüfe diesbezüglich sein Gewissen entsprechend seiner Verantwortung und Zuständigkeit. Vor allem aber ist es notwendig, daß wir einen konstruktiven Dialog zwischen Juden, Christen und Moslems fördern, damit das gemeinsame Zeugnis des Glaubens an den ”Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“  in der Suche nach gegenseitiger Verständigung und brüderlichem Zusammenleben wirksam fruchtbar wird, ohne die Rechte von jemandem zu verletzten.

In diesem Sinn muß jede Initiative des Heiligen Stuhls verstanden werden, wenn er sich darum bemüht, die Anerkennung der gleichen Würde für das jüdische Volk im Staate Israel und für das palästinensische Volk zu suchen. Wie ich im vergangenen Jahr vor Vertretern der jüdischen Gemeinden in den Vereinigten Staaten von Amerika betont habe, hat das jüdische Volk ein Recht auf ein Heimatland, wie es jede andere Nation gemäß dem internationalen Recht hat. Dasselbe aber gilt auch für das palästinensische Volk, aus dem viele Menschen heimatlos und Flüchtlinge sind. Durch gemeinsame Verständigungs- und Kompromißbereitschaft sind endlich jene Lösungen zu finden, die zu einem gerechten, umfassenden und dauerhaften Frieden in diesem Gebiet führen.  Wenn nur Vergebung und Liebe in Fülle ausgesät werden, wird das Unkraut des Hasses nicht wachsen können; es wird erstickt werden. Sich an die Schoah erinnern heißt auch, sich jeder Aussaat von Gewalt zu widersetzen und jeden zarten Sproß von Freiheit und Frieden mit Geduld und Ausdauer zu schützen und zu fördern.

In diesem Geist christlicher Versöhnungsbereitschaft erwidere ich Ihnen von Herzen ihr ”Shalom“ und erflehe für uns alle das Geschenk brüderlicher Eintracht und den Segen des allmächtigen und allgütigen Gottes Abrahams, Ihres und unseres Vaters im Glauben.

 

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