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BOTSCHAFT VON JOHANNES PAUL II.
ANLÄSSLICH DES 91. KATHOLIKENTAGES

 

Meinem verehrten Bruder Oskar Saier,
Erzbischof von Freiburg.

Verehrter Mitbruder!
Liebe Schwestern und Brüder!

”Eine neue Stadt ersteht – Europa bauen in der einen Welt“.

Dieses Leitmotiv des 91. Deutschen Katholikentages in Karlsruhe ist eine glückliche Fortsetzung jener Botschaft, die im vergangenen Dezember die Sondersynode der Bischöfe für Europa verkündet hat. Diese neue Stadt, das himmlische Jerusalem, lässt sich nicht mit einer politischen Größe oder einem innerweltlichen Konzept gesellschaftlichen Lebens gleichsetzen. Sie kann nur, wie der Seher Johannes es in seiner Offenbarung beschreibt, von Gott her niedersteigen und im Verlauf der Menschheitsgeschichte nie voll verwirklicht werden, denn sie ist die kommende Stadt jenes Reiches, in das die Weltgeschichte einmündet, das aber die Zeitlichkeit dieser Welt übersteigt. Und doch können wir als Christen unsere Verantwortung in dieser Welt nur im Licht der neuen Stadt, die uns von Gott verheißen ist, wahrnehmen. Ein aus dem Evangelium erneuertes Europa wird zwar noch nicht diese neue Stadt sein, aber es kann und soll bereits als Bild und Zeichen auf das Kommende hindeuten.

Eine Wirklichkeit jedoch, die uns von der kommenden neuen Stadt in der Offenbarung des Johannes verkündet wird, ist schon jetzt für unser geschichtliches Handeln ein Maßstab, von dessen Anwendung Entscheidendes auch für die Zukunft Europas, ja der ganzen Menschheit, abhängt: Das Lamm ist das Licht dieser Stadt.

Das Lamm ist ein Bild für den menschgewordenen Sohn Gottes, der sich seiner Macht und Herrlichkeit entäußert und in der Hingabe seines Lebens der Welt Heil, Frieden und Versöhnung geschenkt hat. Durch das Blut des Lammes sind wir mit Gott und miteinander versöhnt. ”Eine neue Stadt entsteht“, das heißt: eine versöhnte Stadt entsteht. Das ist ein durchaus konkretes Programm für unser Handeln.

Ihr lebt in einem Land, das nach Jahrzehnten der Trennung zur Einheit gefunden hat. Es geht nun entscheidend darum, die wiedergewonnene Einheit mit Leben zu erfüllen. Bei den unterschiedlichen Gesellschaftssystemen und Geschichtsverläufen im Osten und im Westen Deutschlands gilt es um so mehr, füreinander Verständnis und Solidarität aufzubringen sowie sich gegenseitig anzunehmen und gemeinsam die Lasten zu tragen. Trotz der ungeheueren wirtschaftlichen und sozialen Aufgaben und Probleme, die vor Euch stehen, müsst Ihr den geistigen und geistlichen Werten einen entscheidenden Platz einräumen, um auf dem mühsamen Weg einer gemeinsamen Entwicklung zu einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft zu gelangen.

Eine weitere Last wiegt ebenso schwer: In dem Unrechtssystem, das über Jahrzehnte im Osten Eures Vaterlandes herrschte, gab es eine Unzahl von Verstrickungen mit der Gefahr der Aufteilung der Gesellschaft in Opfer und Täter. Weder kann die Wahrheit vertuscht noch begangenes und erlittenes Unrecht verharmlost werden; dennoch haben wir die Wahrheit letztlich im Licht des Lammes zu sehen, im Licht der Versöhnungsbereitschaft, die jedem, auch dem Schuldiggewordenen, neue Chancen gibt.

Die neuen Möglichkeiten und Herausforderungen, die durch den Zusammenbruch der kommunistischen Systeme und durch die Entwicklung zu mehr Einheit und Freiheit in Europa gewachsen sind, verlangen nach versöhnten Herzen aller an diesem Prozess beteiligten Partner, damit aus alten Wurzeln eine neue Kultur der Gemeinschaft und eine wahre Zivilisation der Liebe entstehen kann.

Zur Versöhnung kann auch beitragen, sich die Bitte Jesu zu vergegenwärtigen, mit der er sich am Abend vor seinem Leiden an seinen himmlischen Vater wendet: ”Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast“. Diese Bitte Jesu an den Vater hat ebenso die Einheit in der Kirche wie die Einheit der Christen in den noch getrennten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften im Blick. Eine neue Evangelisierung Europas kann nur fruchtbar werden, wenn die Christen dieses Kontinentes gegenseitig ihren Beitrag zur Bewahrung und Weitergabe des Glaubens anerkennen und im gemeinsamen Bemühen jene Hindernisse zu beseitigen suchen, die einer vollen Einheit noch im Wege stehen. Eine gewisse Entfremdung zwischen neuzeitlicher Kultur und christlicher Botschaft macht dieses Ringen und Mühen um die Einheit zu einer um so dringlicheren Aufgabe.

Europäische Geschichte ist innerlich verflochten mit der Geschichte jenes Volkes, dem Jesus selbst entstammt. In Europa wurde dem jüdischen Volk unaussprechliches, existenzbedrohendes Unrecht angetan, und wir können nicht unbedingt davon ausgehen, dass alle Wurzeln dieses Unrechtes unwiederbringlich ausgerissen sind. Aussöhnung zwischen Juden und Christen gehört unabdingbar auf die Tagesordnung des neuen Europa.

Das Licht des Lammes ist uns nicht allein dazu gegeben, dass wir einander nur in Europa mit neuen Augen sehen. Das Gotteslamm hat die Schuld der Welt getragen und hinweggenommen, der Friede Christi ist Friede für die ganze Welt. Europa kann sich nicht in sich selbst verschließen, Europa lebt in der einen Welt und hat am Werden und Wachsen der einen Welt eine hohe Verantwortung. Gerade in diesem Jahr schauen wir über die Grenzen Europas hinaus nach Lateinamerika, wohin vor 500 Jahren aus Europa die Boten des christlichen Glaubens gekommen sind. Versöhnung hat eine weltweite Dimension. Europa darf nicht vergessen, wie sehr es durch die Geschichte und Gegenwart in Verantwortung genommen ist, damit alle Völker dieser Erde am Prozess menschlicher Partnerschaft und gesamtmenschlicher Entwicklung Anteil haben.

Es könnte den Anschein haben, als ob die vielen Pflichten und Aufgaben, die uns unwillkürlich in den Sinn kommen, wenn wir an den Aufbau eines neuen Europa in der einen Welt denken, uns überfordern könnten. Tatkräftiges Umdenken und Bereitschaft zu ernstem Bemühen sind uns nicht zu ersparen. Im Grunde stehen wir aber auch in einer chancenreichen und herausfordernden Situation. Das Zeugnis für die Werte und Haltungen, die dem Evangelium entsprechen, ist Bedingung dafür, dass der Glanz der neuen Stadt bereits auf das neue Europa fällt.

Gerade in der jungen Generation von heute lebt eine Sehnsucht nach weltweiter Verbundenheit und Gemeinschaft, nach Abbau trennender Barrieren, nach Dialog und Solidarität. Die Jugend Europas ist ein Geschenk für die Zukunft dieses Kontinents und der ganzen Welt. Ich lade gerade die jungen Menschen auf dem 91. Deutschen Katholikentag dazu ein, sich dem Dienst der Versöhnung im Bemühen um die Einheit Europas und der ganzen Welt grobherzig und tatkräftig zur Verfügung zu stellen.

Der 91. Deutsche Katholikentag findet in einer Region Eures Vaterlandes statt, die von ihrer Lage und Tradition her prädestiniert ist, ein Beispiel grenzüberschreitender Versöhnung und Gemeinschaft zu geben. In diesem Zusammenhang grübe ich die Teilnehmer aus den europäischen Ländern, vor allem aus Frankreich und der Schweiz, sehr herzlich. Möge es den Menschen in der Stadt Karlsruhe und den Gläubigen des Erzbistums Freiburg auch in Zukunft vergönnt sein, entsprechend der besonderen geographischen Lage dieser Region entscheidend dazu beizutragen, Menschen und Völker einander näherzubringen, füreinander zu öffnen und über Grenzen hinweg Begegnung zu ermöglichen.

Allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des 91. Deutschen Katholikentages in Karlsruhe sowie den vielen Helfern und Mitwirkenden, die zu seinem Gelingen beitragen, erteile ich von Herzen meinen besonderen Apostolischen Segen.


Aus dem Vatikan, 16. Juni 1992.

IOANNES PAULUS PP. II

 

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