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PASTORALBESUCH IN DER BUNDESREPUBLIK
DEUTSCHLAND (21.-23. JUNI 1996)

ÖKUMENISCHE WORTFEIER

ANSPRACHE VON JOHANNES PAUL II.

Dom zu Paderborn - Samstag, 22. Juni 1996

 

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn!

1. In der kleinasiatischen Stadt Troas hatte der Völkerapostel Paulus auf seiner zweiten Missionsreise eine nächtliche Vision: »Ein Mazedonier stand da und bat ihn: Komm herüber nach Mazedonien, und hilf uns!« (Apg 16,9) Paulus versteht diese Vision als Ruf Gottes, umgehend nach Europa überzusetzen, um dort die Frohbotschaft des Herrn zu verkündigen: »Auf diese Vision hin wollten wir sofort nach Mazedonien abfahren; denn wir waren überzeugt, daß uns Gott dazu berufen hatte, dort das Evangelium zu verkünden«. (Apg 16,10) Diese Begebenheit markiert eine entscheidende Stunde in der Geschichte Europas: Der Geist Gottes selbst hat dem Evangelium den Weg nach Europa gewiesen,

2. Aus dem Gang der Geschichte wissen wir, mit welch unermüdlichem Einsatz der Apostel Paulus zusammen mit seinen Mitarbeitern dem Ruf Gottes gefolgt ist. Er hat mit der Gründung der ersten Gemeinden jene Fundamente gelegt, auf denen jede spätere Mission aufbauen konnte. Die Bemühungen um die Evangelisierung waren und sind kein leichtes Unterfangen. Die mußte der Völkerapostel Paulus bereits bei seiner Verkündigung des Evangeliums in Athen, Korinth und Rom erfahren. Dies erfuhren in ähnlicher Weise diejenigen, die das Evangelium in späteren Jahrhunderten zu neuen Völkern gebracht haben: der heilige Patrick, der heilige Bonifatius, der heilige Kilian, der heilige Willibrord, der heilige Emmeram, die heiligen Brüder Cyrillus und Methodius. Und dies erfuhren in unserem Jahrhundert jene evangelischen, katholischen und orthodoxen Christen, die gegenüber den totalitären Diktaturen mutig und unerschrocken ihr Zeugnis für die Wahrheit des Evangeliums ablegten: Edith Stein, Alfred Delp, Bernhard Lichtenberg, Karl Leisner und Bernhard Leiterhaus, Dietrich Bonhoeffer und Helmuth Graf Moltke.

3. »Komm herüber und hilf uns«. Der Ruf, für die Wahrheit des Evangeliums Zeugnis abzulegen, ergeht heute an uns. Unsagbar viel hängt davon ab, ob das Evangelium glaubwürdig verkündigt und gelebt wird. Seit meinem letzten Besuch in Deutschland im Jahre 1987 hat sich das politische Bild Europas in einer geradezu unvorstellbaren Weise verändert. Die Mauer ist gefallen; den Menschen jenseits des Eisernen Vorhangs wurde nach 40jähriger kommunistischer Diktatur das kostbare Geschenk der Freiheit zuteil. Diese neue Freibit gilt es nun gemeinsam zu gestalten. Neue Möglichkeiten und Aufgaben tun sich auf, sich neuen Herausforderungen im Osten wie im Westen zu stellen und sie zu bestehen.

Im Osten haben die atheistischen Regime geistig-seelische Wüsten in den Herzen vieler Menschen und insbesondere bei der Jugend hinterlassen, während im Westen der Gefahr einer übermäßigen Konsumorientierung zu begegnen ist, die die geistigen Werte der Gesellschaft zu ersticken droht. Neu-Evangelisierung ist daher das Gebot der Stunde. Dabei geht es nicht um die »Restauration« einer längst vergangenen Epoche. Vielmehr müssen neue Schritte gewagt werden. Gemeinsam haben wir den Menschen Europas erneut die froh- und freimachende Botschaft des Evangeliums zu verkündigen. Auf diese Weise gilt es zugleich, die christlichen Wurzeln Europas wiederzuentdecken, um damit eine Zivilisation zu gestalten, in der die vom christlichen Glauben vermittelten Werte wahrer Menschlichkeit ihren festen Platz haben.

4. Herzlich grüße ich von hier aus die Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Kirchentages in Eisleben, der von katholischen und evangelischen Christen gemeinsam vorbereitet wurde. Sie sind aus Anlaß des 450. Todestages von Martin Luther zusammengekommen. Möge Ihr gemeinsames Nachdenken dazu beitragen, uns einander näher zu bringen. »Komm herüber und hilf uns!«. Wir dürfen heute nicht zögern, uns der drängenden Aufgabe der Neu-Evangelisierung zu stellen. Ihre Kernbotschaft lautet: »Gott hat die Welt so sehr geliebt, daß er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat« (Joh 3,16). In Jesus Christus haben wir Anteil an seinem Sieg über Sünde und Tod; in Jesus Christus ist uns Auferstehung und ewiges Leben verheißen. Dieses Wissen um Sünde und Tod sowie um Auferstehung und ewiges Leben relativiert die Mächte und die Mächtigen dieser Welt und verleiht uns die Kraft, bei der Gestaltung Europas in einer immer mehr eins werdenden Welt mitzuwirken, damit die aus dem Glauben kommenden sittlichen Kräfte darin auf neue Weise wirksam werden können.

5. Der Auftrag der Evangelisierung geht alle Christen - Katholiken, Orthodoxe, Protestanten - gleichermaßen an. Das Zeugnis für Jesus Christus, den Sohn des lebendigen Gottes, der von den Toten auferstanden ist und allen Menschen das Antlitz des einen Gottes offenbart, muß einmütig von uns in die Welt hineingetragen werden. Alle Christen sind aufgerufen, sich entsprechend ihrer Berufung dieser Aufgabe zu stellen. Der Auftrag der Evangelisierung schließt das Zueinandergehen und Miteinandergehen der Christen von innen her mit ein; Evangelisierung und Einheit, Evangelisierung und Ökumene sind unlösbar aufeinander bezogen. Wie ich in meiner Enzyklika über den Einsatz für die Ökumene Ut unum sint betont habe, »liegt es auf der Hand, daß die Spaltung der Christen im Widerspruch zu der Wahrheit steht, die sie zu verbreiten beauftragt sind, und daher ihr Zeugnis schwer verletzt« (Ut unum sint, 98). Daher ist - um die Worte meines Vorgängers Papst Paul VI. zu gebrauchen »das Schicksal der Evangelisierung mit aller Bestimmtheit an das von der Kirche gebotene Zeugnis der Einheit gebunden« (Evangelii nuntiandi, 77). Weil mir das Anliegen der Neu-Evangelisierung ein Herzensanliegen ist, sehe ich als Bischof von Rom in der Überwindung der Spaltung der Christenheit »eine der pastoralen Prioritäten«. »Wie kann man denn das Evangelium von der Versöhnung verkünden, ohne sich gleichzeitig tätig für die Versöhnung der Christen einzusetzen?« (Ut unum sint, 98).

6. Unser heutiges Bemühen um das gemeinsame Zeugnis für die Einheit kann nicht darauf verzichten, auch auf Martin Luther einzugehen. Heute, 450 Jahre nach seinem Tod, ist es aus dem zeitlichen Abstand heraus möglich, Person und Wirken des deutschen Reformators besser zu verstehen und ihm besser gerecht zu werden. Nicht nur die Forschungen bedeutender evangelischer und katholischer Wissenschaftler haben dazu beigetragen, ein vollständigeres und differenzierteres Bild von der Persönlichkeit Martin Luthers zu entwerfen. Auch der lutherisch-katholische Dialog hat einen bedeutenden Beitrag geleistet, alte Polemiken zu überwinden und einer gemeinsamen Sichtweise näher zu kommen.

Luthers Denken war geprägt durch eine starke Betonung des Individuums, wodurch das Bewußtsein für die Anforderungen der Gemeinschaft geschwächt wurde. Luthers Ruf nach Reform der Kirche war in seiner ursprünglichen Absicht ein Aufruf zu Buße und Erneuerung, die im Leben eines jeden einzelnen zu beginnen haben. Daß dennoch Trennung aus diesem Anfang geworden ist, hat viele Gründe. Dazu gehört jenes Versagen in der katholischen Kirche, das bereits Papst Hadrian VI. mit bewegenden Worten beklagt hat sowie das Hereintreten politischer und wirtschaftlicher Interessen, aber auch Luthers eigene Leidenschaft, die ihn weit über das anfangs Gewollte hinaus in eine radikale Kritik der katholischen Kirche, ihrer Lebensordnung und ihrer Lehre hineingetrieben hat. Wir alle haben Schuld auf uns geladen. Deshalb sind wir alle zur Buße aufgefordert und müssen uns alle immer wieder neu vom Herrn reinigen lassen.

7. »Komm herüber und hilf uns!«. Heute kommt es mehr denn je darauf an, daß alle Christen ihre besonderen Gaben und Charismen in das geistige Leben Europas einbringen, damit der eine vom Reichtum des anderen lernen kann. Die protestantische Christenheit hat mit ihren Kirchenliedern, ihrer großen Kirchenmusik und ihrer unablässigen theologischen Reflexion die ganze Christenheit bereichert. Die Göttliche Liturgie, das Mönchtum und die mystische Frömmigkeit der Orthodoxie wie ihr beharrlich von den Vätern her genährtes Denken sind ein Schatz, der uns allen zugute kommt. Die katholische Kirche hat mit der Fülle missionarischer und sozialer Ordensgemeinschaften, mit ihrer eucharistischen Frömmigkeit, mit der Liebe zu Maria, die sie mit der Orthodoxie teilt, mit der Kraft ihres Lehramtes, besonders mit der weltweit vernommenen Stimme der Päpste wiederum eigene Gaben, ohne die das christliche Zeugnis in der Welt von heute nicht zu denken ist.

Es gehört zu den grundlegenden Erkenntnissen, daß es den Christen im neuen Europa vor allem dann gelingt, sich Gehör zu verschaffen, wenn sie gemeinsam Zeugnis für die Wahrheit des Evangeliums und für die Verantwortung gegenüber der Welt ablegen. Von daher ist es unerläßlich, dieses gemeinsame Zeugnis zu verstärken.

8. In Deutschland gibt es bereits eine gute Tradition intensiver Zusammenarbeit zwischen den Konfessionen auf ethisch-sozialem Gebiet: angefangen von den Bemühungen, sich den Herausforderungen und Aufgaben zum Schutz des menschlichen Lebens zu stellen, bis hin zur Entwicklung gemeinsamer Perspektiven zur wirtschaftlichen und sozialen Verantwortung. Wir wollen dem Herrn danken, daß es heute möglich ist, daß Protestanten, Orthodoxe und Katholiken in vielen zentralen Fragen mit einer Stimme sprechen. Dies ist nicht zuletzt eine Frucht langjährigen Bemühens, im ökumenischen Dialog die bestehenden Lehrunterschiede aufzuarbeiten. Führende Theologen aus Deutschland haben dazu sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene einen entscheidenden Beitrag geleistet. Im Anschluß an meinen ersten Deutschlandbesuch hat sich eine Expertengruppe darangegeben, die Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts im ökumenischen Dialog historisch und systematisch zu behandeln. Gerade vorhin bin ich bei meiner Begegnung mit dem Herrn Ratsvorsitzenden der EKD ausführlich auf die Ergebnisse dieser Studie eingegangen. Viele der damaligen Kontroversen erscheinen heute dank dieser Untersuchung in einem neuen Licht. Es wurden Gräben überbrückt, die frühere Generationen für unüberbrückbar hielten. Die in Deutschland erarbeiteten Ergebnisse reichen in der Bedeutung auf dem Weg der Wiederannäherung von Katholiken und Protestanten weit über den nationalen Rahmen hinaus und geben Hoffnung an der Schwelle des dritten Jahrtausends christlicher Geschichte.

9. Nur noch wenige Jahre trennen uns vom Jahr 2000. Diese Zeit ist eine einzigartige Gelegenheit für alle Christen zur Verkündigung des Evangeliums. Gleichzeitig »spornt das Herannahen des Endes des zweiten Jahrtausends alle zu einer Gewissensprüfung und zu passenden ökumenischen Initiativen an, so daß man im Großen Jubeljahr, wenn schon nicht in völliger Einheit, so wenigstens in der Zuversicht auftreten kann, der Überwindung der Spaltungen des zweiten Jahrtausends sehr nahe zu sein« (Tertio Millennio adveniente, 34). Der bevorstehende Übergang ins neue Jahrtausend sollte uns alle antreiben, für die zentralen Wahrheiten unseres Glaubens in verstärktem Maße gemeinsames Zeugnis abzulegen, »damit die Welt glaubt« (Joh 17,21).

»Komm herüber und hilf uns!«. Diesen Bittruf richte ich in dieser Stunde an den Herrn; denn ich weiß, daß die Evangelisierung nur gelingen kann, wenn er selbst uns hilft. »Komm herüber und hilf uns!«. Dieser Bittruf verlangt aber zugleich auch, daß wir alle diesen Ruf ernst nehmen und uns als Zeugen des Herrn aussenden lassen. Es geht dabei um die Zukunft der Welt. Möge das einmütige Gebet aller Christen (Apg 1,14) dazu beitragen, den Tag beschleunigt herbeizuführen, an dem der Herr selbst vor aller Augen sichtbar »das gute Werk vollenden wird, das er bei uns begonnen hat« (Phil 1,6).

Amen!

 



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