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JUBILÄUMSPILGERREISE
VON PAPST JOHANNES PAUL II.
 INS HEILIGE LAND (20.-26. MÄRZ 2000)

BESUCH DER GEDENKSTÄTTE YAD VASHEM IN JERUSALEM

ANSPRACHE VON JOHANNES PAUL II.

Donnerstag, 23. März 2000

 

Aus unseren Herzen erheben sich die Worte des altehrwürdigen Psalms:
»Ich bin geworden wie ein zerbrochenes Gefäß.
Ich höre das Zischeln der Menge – Grauen ringsum.
Sie tun sich gegen mich zusammen;
sie sinnen darauf, mir das Leben zu rauben.
Ich aber, Herr, ich vertraue dir, ich sage: ›Du bist mein Gott‹«
(Ps 31,13–15).

1. An dieser Stätte der Erinnerungen empfinden Verstand, Herz und Seele ein ganz starkes Bedürfnis nach Stille. Stille zum Erinnern. Stillschweigen, in dem wir versuchen, etwas Besinnung in die Erinnerungen zu bringen, die uns überfluten. Stille, weil es keine Worte gibt, die stark genug wären, um die grauenhafte Tragödie der »Shoah« zu beklagen. Meine eigenen, persönlichen Erinnerungen betreffen all die Ereignisse, die sich damals zugetragen haben, als die Nazis Polen während des Krieges okkupierten. Ich erinnere mich an meine jüdischen Freunde und Nachbarn: Manche von ihnen kamen um, andere haben überlebt.

Ich bin nach »Yad Vashem« [Ein Denkmal und ein Name] gekommen, um den Millionen Juden die Ehre zu erweisen, denen alles genommen wurde, besonders ihre Würde als Menschen, und die im Holocaust ermordet worden sind. Über ein halbes Jahrhundert ist seitdem vergangen, aber die Erinnerung bleibt.

Hier, wie in Auschwitz und an vielen anderen Orten in Europa, sind wir überwältigt vom Widerhall der herzzerreißenden Klage so vieler Menschen. Männer, Frauen und Kinder schreien zu uns auf aus den Tiefen des Greuels, das sie erfahren mußten. Wie sollten wir ihren Aufschrei nicht hören? Niemand kann das, was damals geschah, vergessen oder ignorieren. Niemand kann die Ausmaße dieser Tragödie schmälern.

2. Wir möchten uns erinnern. Wir möchten uns aber mit einer bestimmten Zielsetzung erinnern, nämlich um zu gewährleisten, daß das Böse nie mehr die Überhand gewinnen wird, so wie es damals für Millionen unschuldiger Opfer des Nazismus der Fall war.

Wie konnte der Mensch eine solche Verachtung des Menschen entwickeln? Weil er den Punkt der Gottesverachtung erreicht hatte. Nur eine gottlose Ideologie konnte die Ausrottung eines ganzen Volkes planen und ausführen.

Die Ehrung als »Gerechte der Völker«, die der Staat Israel hier in Yad Vashem denen zuerkannt hat, die sich heldenhaft – manchmal sogar bis zur Preisgabe ihres eigenen Lebens – für die Rettung von Juden eingesetzt haben, ist eine Anerkennung der Tatsache, daß nicht einmal in der dunkelsten Stunde jedes Licht ausgelöscht ist. Das ist der Grund, weshalb die Psalmen und die ganze Bibel, die sich zwar der Fähigkeit des Menschen zum Bösen wohl bewußt sind, auch verkünden, daß das Böse nicht das letzte Wort haben wird. Aus den Tiefen des Leids und der Trauer kommt der Aufschrei des Herzens des Gläubigen: »Ich aber, Herr, ich vertraue dir, ich sage: ›Du bist mein Gott‹« (Ps 31,15).

3. Juden und Christen teilen ein unermeßliches geistliches Erbe, das aus der Selbstoffenbarung Gottes hervorgegangen ist. Unsere religiösen Lehren und unsere geistliche Erfahrung fordern von uns, das Böse mit Gutem zu überwinden. Wir erinnern uns, aber ohne jedes Verlangen nach Rache oder als Ansporn zum Haß. Für uns bedeutet Erinnerung, für Frieden und Gerechtigkeit zu beten und uns dieser Sache zu verpflichten. Nur eine Welt im Frieden mit Gerechtigkeit für alle kann eine Wiederholung der Verfehlungen und grauenvollen Verbrechen der Vergangenheit verhindern.

Als Bischof von Rom und Nachfolger des Apostels Petrus versichere ich dem jüdischen Volk, daß die katholische Kirche – vom Gebot des Evangeliums zur Wahrheit und Liebe und nicht von politischen Überlegungen motiviert – zutiefst betrübt ist über den Haß, die Taten von Verfolgungen und die antisemitischen Ausschreitungen von Christen gegen die Juden, zu welcher Zeit und an welchem Ort auch immer. Die Kirche verwirft jede Form von Rassismus als ein Leugnen des Abbildes des Schöpfers, das jedem Menschenwesen innewohnt (vgl. Gen 1,26).

4. An diesem Ort des feierlichen Erinnerns bete ich inständig dafür, daß unsere Trauer um die Tragödie, die das jüdische Volk im zwanzigsten Jahrhundert erlitten hat, zu einer neuen Beziehung zwischen Christen und Juden führen möge. Laßt uns eine neue Zukunft aufbauen, in der es keine antijüdischen Gefühle seitens der Christen und keine antichristlichen Empfindungen seitens der Juden mehr geben wird, sondern vielmehr die gegenseitige Achtung, wie sie jenen zukommt, die den einen Schöpfer und Herrn anbeten und auf Abraham als unseren gemeinsamen Vater im Glauben schauen (vgl. Wir erinnern: Eine Reflexion über die Shoah, V; O.R. dt., Nr. 14, 3. April 1998, S. 9).

Die Welt muß die Warnung hören, die die Holocaust-Opfer und das Zeugnis der Überlebenden an uns richten. Hier in Yad Vashem lebt die Erinnerung fort und brennt sich in unsere Seelen ein. Sie läßt auch uns rufen:

»Ich höre das Zischeln der Menge – Grauen ringsum […]
Ich aber, Herr, ich vertraue dir, ich sage: ›Du bist mein Gott‹« (Ps 31,14–15).

 


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